Die diesjährige „Weltkunstausstellung“ in Kassel steht in der Kritik. In einer öffentlichen Auseinandersetzung ist unter anderem das Kurator:innenteam Ruangrupa mit Vorhaltungen des Antisemitismus konfrontiert worden, weil auf einem Großbild Motive als antisemitisch identifiziert wurden. Die DIG hat seit dem letzten Jahr Kontakt mit Ruangrupa . Wir suchen die Begegnung und den Austausch. Als Organisation, die sich seit siebzig Jahren für einen offenen Dialog zwischen Indonesien und Deutschland einsetzt, wünschen wir uns eine weitere Versachlichung der Diskussionen:
Kultur im Dialog
Seit sieben Jahrzehnten setzt sich die Deutsch-Indonesische Gesellschaft Köln (DIG) für einen offenen Dialog ein, will andere Positionen und Lebenswelten kennenlernen und dabei auch die eigenen besser verstehen. Diesen Anspruch sehen wir in der gegenwärtigen Debatte nicht gewährleistet.
Ein Ziel der documenta fifteen ist eine offene Beschäftigung mit künstlerischen Ausdrucksformen. Dabei sollen Entstehungsprozesse sichtbar gemacht werden, die nicht zuletzt auch ein westlich geprägtes Verständnis von Kunst infrage stellen. Auch eine Beschäftigung mit neo-/kolonialen Strukturen ist ein gesetztes Thema für diese Ausstellung. Der kollektive, prozesshafte Ansatz lädt dabei zu Beteiligung und somit auch zur Diskussion ein. Das schließt selbstverständlich Kritik an antisemitischen Haltungen ein, doch plädieren wir für sachkundige Argumentation anstatt schlagwortgetriebener Empörung.
Die Debatte um zwei Figuren auf einem Banner des indonesischen Künstler:innenkollektivs Taring Padi als Beleg für Antisemitismus hatte ihre Vorgeschichte in einer seit Anfang 2022 beförderten Sichtweise, die dem Kurator:innenkollektiv Ruangrupa vorwarf, antisemitischen Positionen Raum zu geben. Diese Haltung wurde vielfach undifferenziert und sogar als grundsätzliches Problem der gesamten documenta bis hin zum Herkunftsland der Künstler:innen formuliert. Statt einer differenzierten und vielstimmigen Auseinandersetzung wurde eine Deutungshoheit beansprucht, die neben den durchaus problematischen Figuren den Gesamtkontext des Banners außer Acht ließ. Die Sicht der Künstler:innen wurde zunächst gänzlich ausgeblendet.
Wir respektieren die Deutung der Kritiker:innen, fordern jedoch neben berechtigter Kritik zu einer genaueren Betrachtung des Banners, seiner lokalen und historischen Einbettung, sowie seiner intendierten Aussage auf. Ein respektvoller Umgang wäre einer sachlichen Diskussion sowie einer Distanzierung von Interessenpolitik zuträglich.
„Keadilan Rakyat“, „People’s Justice“, zu Deutsch „Volksgerechtigkeit“, ist ein Großflächenplakat in Form eines sogenannten „baliho“, eine gigantische Werbetafel, die üblicherweise an Straßenrändern in indonesischen Städten zu finden ist. Gemeint ist damit eine symbolische Verhandlung, in der das Militärregime Suhartos vor dem Gericht des Volkes steht. Die von verschiedenen internationalen Interessengruppen unterstützte Machtergreifung Suhartos im Jahr 1965 kostete in Indonesien viele Menschen das Leben. Die historischen Bezüge des Banners auf die Suharto-Zeit sollten hier unbedingt auch mit Bezug auf indonesische (Kolonial-)Geschichte rezipiert und bewertet werden.
Von indonesischen und anderen Aktivist:innen wird erwartet, dass sie sich mit hiesigen Gegebenheiten, gesellschaftlichen und kulturellen Debatten befassen – zu Recht. Wie weit ist es umgekehrt mit unserer Bereitschaft bestellt? Sind pauschalisierte Vorurteile und Beurteilungen sowie die einseitige Beanspruchung von Deutungshoheiten Bestandteile neo-kolonialer Strukturen? In diesem Sinne werben wir für die Versachlichung der Debatte sowie eine Beschäftigung auch mit anderen Aspekten der „Weltkunstausstellung“, die unter anderem dazu anregen, das westlich geprägte Verständnis von Kunst neu zu betrachten, und über einseitige Kritik hinaus in einen ernst gemeinten Dialog zu treten.
Köln, 28. Juli 2022
Deutsch-Indonesische Gesellschaft e.V.
Der Vorstand
Aus Sicht von Ruangrupa fügen wir noch die Erklärung bei, die Ade Darmawan vor dem Kultur-und Medienausschuss des Deutschen Bundestages am 6.7. 22 abgegeben hat.
Guten Tag, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags,
ich bin Ade Darmawan und stehe heute vor Ihnen als Vertreter von ruangrupa.
Ich möchte diese Anhörung in der Ausschusssitzung mit einem Bezug auf die Geschichte beginnen. 1955 gründete Arnold Bode die documenta in Kassel, um die durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Wunden zu heilen. Einige Monate zuvor im gleichen Jahr hat in Bandung, Indonesien, eine Gruppe von politischen Führern dieser Welt gemeinsam mit der Asien-Afrika-Konferenz den Grundstein für das gelegt, was später als die Bewegung der blockfreien Staaten bekannt wurde. In dieser wichtigen Konferenz wurde darüber diskutiert, wie man auf den Ruinen, die der Kolonialismus hinterlassen hat, Unabhängigkeit schaffen könnte.
Wir glauben, dass wir diese beiden historischen Ereignisse, die im gleichen Jahr stattgefunden haben, hier nennen sollten, da sie uns zeigen, wie auf unterschiedliche Weisen auf die Grausamkeiten des Krieges reagiert wurde.
Die documenta fifteen wurde voller Freude eröffnet. Es war ein langer Weg bis zu dieser Eröffnung, der von verschiedenen Herausforderungen begleitet war, angefangen von der Corona-Pandemie bis zu den Vorwürfen des Antisemitismus, die während der letzten sechs Monate vor der Eröffnung gegen uns erhoben wurden.
Während dieser schwierigen Situation hatten wir immer die Hoffnung, dass die Eröffnung der documenta fifteen für das Entstehen und den Wert unserer kollektiven Arbeit während der gesamten Vorbereitungszeit ein deutlicher Beweis sein würde. Und zugleich hofften wir, dass damit der Moment gekommen sei, in dem wir gemeinsam Wahrheiten aussprechen und uns künftig wechselseitig verstehen können.
Im Folgenden möchte ich die Hauptthemen aufgreifen: das Werk mit dem Titel People’s Justice von Taring Padi und den langen Weg des lumbung-Prozesses. Aber zuvor mögen Sie mir in Vertretung für ruangrupa erlauben, unsere Bitte der Entschuldigung hier nochmals zu äußern. Wie es auch schon in unserer Online-Erklärung heißt, entschuldigen wir uns für den Schmerz und die Angst, die die antisemitischen Elemente in der Arbeit bei all denjenigen hervorgerufen haben, die sie direkt vor Ort oder in den Reproduktionen der Medienberichterstattung gesehen haben.
Deshalb bin ich hier, um ihre Fragen zu beantworten. Warum und wie es dazu kommen konnte, dass das Banner People’s Justice von Taring Padi ausgestellt wurde, ohne dass jemand von uns besagte antisemitische Bildsprache auffiel. Diese Frage möchte ich auf verschiedene Weise beantworten.
Für uns ist es sehr wichtig, mittels der Werke von Taring Padi über den geschichtlichen Kontext Indonesiens zu erzählen und hierbei auch die frühen Werke der Gruppe mit einzubeziehen, die sie in den Jahren um den Fall des Suharto-Regimes und den Beginn der Reform-Periode, also nach 1998, gemacht haben, denn dies ist auch die Ära, in der ruangrupa gegründet wurde.
Es gab leider praktische Probleme beim Aufbau des Gerüstes und mit dem Material des Banners, so dass es während der Preview-Tage noch nicht zu sehen war. Das Banner war in derart schlechtem Zustand, dass es repariert werden musste und somit erst mit der Eröffnung aufgehängt werden konnte. Das kollektiv hergestellte Banner, an dem damals, vor 20 Jahren, mehr als 20 Personen gleichzeitig gearbeitet haben, enthält in den betreffenden Abschnitten Elemente, die tief in die Geschichte und Bildsprache Indonesiens eingebettet sind.
Zur Geschichte gehört, dass westliche Geheimdienste im Namen des Antikommunismus das gewalttätige Suharto-Regime unterstützten, das zwischen 500.000 und einer Millionen Menschen ermordete. Zu unserer Geschichte gehören auch Jahrhunderte der Ausbeutung durch europäische Imperien, insbesondere die Niederlande, auf deren Herrschaft diejenige Japans während des Zweiten Weltkriegs folgte.
Teil der kolonialistischen Gewalt war ein Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Gruppen nicht-weißer Menschen. Sie wissen wahrscheinlich, dass im Fall von Indonesien ein Unterschied zwischen Indigenen Indonesier*innen und der chinesischen Minderheit konstruiert wurde. Hierbei haben niederländische Offiziere, wie Sie vielleicht wissen, europäische antisemitische Ideen und Bilder auf die chinesische Minderheit übertragen und sie in einer Weise dargestellt, wie Europäer*innen Juden beschrieben haben.
Es ist erschreckend und beschämend für uns, dass hier heutzutage der Zyklus der Übertragung weiter vollendet wurde. Ein in Europa entstandenes Bild wurde auf völlig inakzeptable Weise unserem kulturellen Kontext angepasst. Ein Prozess, über den wir gemeinsam nachdenken sollten. Unser kuratorischer Ansatz ist kein klassischer autoritärer Ansatz, der die volle Kontrolle über die Elemente der Arbeit bei der Schaffung der Ausstellung ausübt. Wir ziehen es vor, zusammenzuarbeiten.
Die Künstler*innen sollen das weiterführen können, was Teil ihres bisherigen kreativen Prozesses war, um es dann in den Kasseler Kontext zu übersetzen – und zwar nicht auf extraktive, sondern auf regenerative Weise. Wir sind in einer ständigen Diskussion mit den Künstler*innen über ihre Ethik, Politik, ihre Prozesse und Arbeitsweisen.
Oft laden unsere Kooperationspartner*innen weitere Partner*innen ein. Wir vertrauen bei diesem Prozess absolut auf unsere Partner*innen und dies kann zu Werken führen, die uns manchmal selbst überraschen. Entscheidungen werden gemeinsam in der Versammlung diskutiert und getroffen. In dieser Kollektivität liegt unser kuratorischer Ansatz, und im lumbung trägt das Kollektiv die Verantwortung.
Wir verstehen dies als ein politisches Unterfangen, bei dem kollektives Handeln, Entscheiden und Verwalten als Alternative zu autoritären Arbeitsformen fungieren. Es ist also eine Dezentralisierung der künstlerischen Leitung. Mit allen, mit denen wir zusammenarbeiten und die in diesem Prozess beteiligt sind, haben wir versucht, die Rolle der künstlerischen Leitung auf der documenta fifteen zu dezentralisieren.
Unsere Ergebnisse werden, wie der Strom an Besucher*innen bis jetzt zeigt, von Tausenden von Besuchenden geschätzt. Dieser Erfolg wäre uns ohne unser Experimentieren mit einem demokratischeren Prozess bei der Realisierung der Ausstellung nicht möglich gewesen. Wir wissen, dass dies ein Risiko ist, wir sind es aber bewusst eingegangen, da unserer Auffassung nach Fehler immer auch Lernmomente in sich bergen können. Bei Abwägung aller Umstände war das Abhängen des Großbildes People’s Justice für uns der einzig richtige Schritt. Bei den vielen Herausforderungen, mit denen wir in den Monaten vor der Eröffnung konfrontiert waren, möchten wir darauf hinweisen, dass mit ihnen auch eine Flut unbegründeter Anschuldigungen und Angriffe verbunden war – was zweifellos zu einer Atmosphäre führte, in der am Ende nicht die lumbung-Werte, insbesondere das wechselseitige Lernen mit Respekt voreinander, praktiziert wurden, sondern ein Impuls zum Verhör, zum Ausschluss und zur Zensur. Wir möchten diese Gelegenheit nutzen, um die breitere Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass wir, ruangrupa, das Künstlerische Team, zusammen mit unseren Partner*innen, Künstler*innen und Teammitgliedern, die für die documenta fifteen arbeiten, infolge dieses Klimas bis heute auf mehreren Ebenen Belästigungen erleben, physisch und digital.
Wir sehen es als eine große Hausaufgabe für die Geschäftsführung und auch für uns, dass wir bis zum Ende dieser 100 Tage die Sicherheit aller Beteiligten gewährleisten. Lassen Sie mich bitte auch noch Folgendes sagen: Die Anschuldigungen gegen uns sind falsch, hätte man Gesprächen ausreichend Raum und Zeit gegeben, zwischen uns, den Künstler*innen und Teammitgliedern, hätte der Geist der Gleichberechtigung aufrecht erhalten werden können.
Dialog und Vertrauen sollte, im Sinne der We need to talk!-Reihe, den Vorrang gegenüber Konfrontation und Misstrauen erhalten, um zu einem produktiven und offenen Diskurs über Antisemitismus und Rassismus in Kunst und Gesellschaft zu kommen. Denn auch das möchte ich klarstellen: Es gibt keinen stillen Boykott gegen Israelis und oder Juden. Tatsächlich zeigt die documenta fifteen sowohl israelische als auch jüdische Künstler*innen, die hier ihrem Wunsch gemäß nicht namentlich genannt werden.
Wir haben unsere Rolle hier nie so verstanden, dass wir nationale Vertretungen einbringen oder die Auswahl auf der Basis ethnischer oder religiöser Identitäten treffen. Die meisten von uns arbeiten und entwickeln das lumbung-Konzept und seine Praxis, gerade weil wir das Arbeitssystem und die Politik des Nationalstaats in Frage stellen.
Künstler*innen arbeiten daran, sich von nationalen, staatlichen, ethnischen und religiösen Bindungen und Identitäten zu lösen und sie weigern sich, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden
Diejenigen von uns, die auf der documenta fifteen ausstellen, darunter ruangrupa, kommen aus Kontexten, in denen es oft zu Zensur kommt. Es war von Anfang an unsere Absicht, die Meinungsfreiheit durch die documenta fifteen zu feiern. Das ist nicht nur für die lumbung- und die documenta-Community wichtig, sondern für alle Kämpfe weltweit, die kritische Stimmen gegen staatliche Gewalt und Kapitalismus unterstützen, die wiederum die Klimakrise ausgelöst haben, die gleichzeitig eine Bedrohung für und auch in Deutschland darstellt.
Wir verstehen, dass sich diese Meinungsfreiheit trotz dieser Überzeugung nicht auf Dinge erstrecken sollte, die beleidigend oder aufrührerisch oder aufhetzend sind.
Daher hoffen wir aufrichtig, dass alles, was nach der Zensur, dem Verstummen von Stimmen und der Reproduktion von Traumata aussieht, mit denen wir täglich konfrontiert sind, nicht passiert. Obwohl wir aus unseren Fehlern lernen wollen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir auch hier sind, um unsere Perspektiven, Erfahrungen und unser Wissen zu teilen. Lassen Sie mich abschließend sagen, dass es hier nicht darum geht, dass der globale Süden dem globalen Norden fremd ist oder von ihm getrennt. Seit Jahrhunderten leben Europäer*innen Seite an Seite mit dem sogenannten globalen Süden, von der Kolonialzeit über die Ära der Expansion des Kapitalismus bis heute. Eine falsche Gegenüberstellung, die die documenta fifteen als Ausstellung sieht, die nur die Stimmen des globalen Südens repräsentiert, würde die Ideen und Diskussionen, die wir innerhalb des lumbung und in der Ausstellung aufgeworfen haben, verkürzt darstellen.
Mit der lumbung-Methode hoffen wir auf weitere Gespräche darüber, wie wir alle lernen zu teilen und mit Menschen aus unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Kosmologien zusammenleben können. Wir hoffen, dass wir dieses große Potenzial bis zum Ende der 100-tägigen Ausstellung, auch vor allem in der Zeit danach, ausschöpfen können. Danke.