von Hiltrud Cordes
Biogeographie und Evolutionsbiologie sind Wissenschaftszweige, die sich mit der Entstehung und Verbreitung und auch mit dem Aussterben von Tier- und Pflanzenarten befassen. Besonders aufschlussreich für diese Gebiete der Naturwissenschaft sind Inseln, weil diese häufig ein ganz spezielles Muster in der Komposition von Flora und Fauna aufweisen, das sich bisweilen vom Festland, dem sie vorgelagert sind wie auch von benachbarten Inseln deutlich unterscheidet. Auf Inseln lassen sich die Vorgänge der Evolution – also die Entstehung und Entwicklung der Arten – gewissermaßen wie in einem Reagenzglas beobachten und rekonstruieren.
So ist es nicht verwunderlich, dass Charles Darwin, der Begründer der Evolutionstheorie, viele der Daten, die ihn zu den Erkenntnissen über die Entstehung der Arten geführt haben, auf einer Inselgruppe, nämlich den Galapagos-Inseln, gesammelt hat. Und weiterhin liegt auf der Hand, dass ein Land wie Indonesien, dessen Territorium aus 17.000 Inseln besteht, in Hinblick auf seine biogeographische Struktur einiges an Besonderheiten zu bieten hat.
Ein jüngerer Zeitgenosse von Charles Darwin hat um die Mitte des 19. Jahrhunderts acht Jahre lang den malaiischen Archipel erforscht, und sein Name ist eng verbunden mit einer wichtigen biogeografischen Linie, die Indonesien durchkreuzt: die Rede ist von dem britschen Naturforscher Alfred Russel Wallace und der nach ihm benannten Wallace-Linie. Unabhängig von Darwin hat Wallace sogar noch vor dem älteren, von ihm verehrten Kollegen die Theorie der natürlichen Auslese als Triebfeder der Evolution entwickelt. Doch dem in Wissenschaftskreisen etablierteren, in London ansässigen Darwin wurde der bessere Platz im Rampenlicht der Geschichte zuteil.
Doch welche Mechanismen sind es, die dazu führen, dass sich auf Inseln so häufig besondere Ökosysteme herausbilden? Und welches sind die Besonderheiten, die Indonesien in Bezug auf seine Tier- und Pflanzenwelten aufzuweisen hat?
Wallace hatte 1856, im dritten Jahr seiner Expedition durch die malaiische Inselwelt, ein Schlüsselerlebnis, das er in seinem Werk „The Malay Archipelago“ („Der malaiische Archipel“) schildert:
„Während der paar Tage, die ich auf meinem Weg nach Lombok an der Nordküste Balis haltmachte, sah ich einige für die Ornithologie Javas überaus typische Vögel.“ … „Als ich nach Lombok übersetzte, das eine weniger als dreißig Kilometer breite Wasserstraße von Bali trennt, erwartete ich natürlich, einige dieser Vögel wiederzutreffen; aber während eines dreimonatigen Aufenthaltes dort sah ich keinen einzigen von ihnen, sondern begegnete einer vollständig anderen Reihe von Arten, von denen die meisten nicht nur in Java, sondern auch in Borneo, Sumatra und Malakka absolut unbekannt waren.“ … „Diese Inseln unterscheiden sich in ihren Vögeln und Vierfüßern weit stärker voneinander, als England und Japan das tun.“
Wie wir heute wissen, verläuft zwischen Bali und Lombok eine biogeografische Grenze, die nach eben jenem Naturforscher „Wallace-Linie“ benannt wurde. Der indonesische Teil westlich dieser Linie gehört zur orientalischen Hauptregion, während der Landesteil östlich der Wallace-Linie zum australasiatischen Raum zählt. Somit ähnelt die Tier- und Pflanzenwelt der Inseln Sumatra, Borneo, Java und Bali der des asiatischen Festlandes, wogegen Neu-Guinea und seine Nachbarinseln mehr Gemeinsamkeiten mit Australien aufweisen. Die Fauna des westlichen Raumes umfasst Affen, Huftiere und Katzen, während im Osten Beuteltiere vorherrschen, die hier auch u.a. die ökologischen Nischen besetzt haben, die im Westen von den Affen eingenommen werden, nämlich die Baumkronen. Viele der höheren Säugetiere wie Rehe, Schweine und Hunde wurden vor Jahrtausenden von frühen Einwanderern eingeführt. Zu den prominenten Vertretern der östlichen Vogelwelt gehören Kakadus, Paradiesvögel, Großfußhühner, Laubenvögel sowie der flugunfähigen Kasuari auf Neu-Guinea.
Die Insel Sulawesi nimmt dabei eine Sonderstellung ein, denn hier überlappen sich die beiden Großregionen. Sulawesi stellt die Westgrenze für das Vorkommen von Eukalyptusarten dar und beheimatet Beuteltiere, doch zugleich kommen hier Affen, Huftiere und andere höhe Säugetiere vor. Die Region, in der orientalische und australasiatische Flora und Fauna sich überschneiden, wird – ebenfalls zu Ehren von Alfred Russel Wallace – „Wallacea“ genannt.
Die Wasserstraßen zwischen Bali und Java, Java und Sumatra sowie zwischen Sumatra und der malaysischen Halbinsel sind kaum siebzig Meter tief. Im Verlauf der Erdgeschichte hat es immer wieder Eiszeiten gegeben, in deren Verlauf große Wassermengen in Gletschern und Polen gebunden waren, was zur Senkung des Meeresspiegels führte. Bei einer angenommenen Senkung des Meeresspiegels um 100 Meter war der westliche Bereich des heutigen Indonesien Teil des asiatischen Festlandes. Zuletzt war dies vermutlich bei der jüngsten Vereisungsperiode im Pleistozän der Fall, die vor etwa 12.000 Jahren endete. Das heutige Bali war damals der westlichste Ausläufer eines Areals, das als „Sundaschelf“ bezeichnet wird und sowohl die heutigen Inseln Java, Sumatra und Borneo umfasste als auch die Javasee und den Golf von Thailand. In diesem riesigen Gebiet mit tropischen Wäldern und Sümpfen streiften Tiger, Elefanten und Nashörner umher, Orang Utans und andere Affen bewohnten die Baumkronen, und Tapire, Malaiienbären und Schuppentiere waren ebenfalls hier heimisch.
Auch in der östlichen Hauptregion Indonesiens sank mehrfach der Meeresspiegel, und es enstanden Landbrücken zwischen Australien, Neu-Guinea und vielen anderen Inseln in der Region. In diesem Gebiet konnte sich die australische Flora und Fauna trockenen Fußes ausbreiten.
Doch einige Wasserstraßen, wie der tiefe Graben zwischen Bali und Lombok, blieben durch alle Vereisungsperioden hinweg eine Trennlinie zwischen dem Sundaschelf und der australasiatischen Region.
Ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung spezifischer Insel-Ökosysteme ist das Alter der jeweiligen Insel, also der Zeitraum, über den sie Gelegenheit hatte, eine eigene, insulare Evolution zu durchlaufen. Inseln können entstehen, indem sie durch Anhebung des Meeresspiegels oder Kontinentaldrift vom Festland abgetrennt werden, oder sie können durch vulkanische Aktivitäten aus dem Meer emporwachsen. Beide Typen von Inseln – sowohl Kontinentalinseln, die einst mit dem Festland verbunden waren, als auch ozeanische Inseln, auf denen die Besiedlung mit Pflanzen und Tieren gewissermaßen am Nullpunkt beginnt – kommen in Indonesien vor.
Ein berühmtes Beispiel für eine ozeanische Insel in Indonesien, die – erdgeschichtlich betrachtet – vor wenigen Augenblicken entstanden ist, ist die Insel Anak Krakatau zwischen Java und Sumatra. Nachdem im Jahr 1883 die Vulkan-Insel Krakatau bei einem gewaltigen Ausbruch zerstört wurde, stieg fast 50 Jahre später, in den letzten Monaten des Jahres 1930, von dem unterseeischen Stumpf des Vulkans eine neue Insel empor, die den Namen anak krakatau ‚Kind des Krakatau’ erhielt. Bei einem erneuten Ausbruch im Jahr 1952 wurde fast all das bis dahin neu entstandene Leben auf Anak Krakatau wieder ausgelöscht. Seither beobachten Wissenschaftler, in welcher Reihenfolge und Geschwindigkeit sich hier neue Pflanzen- und Tierarten ansiedeln.
Pflanzensamen können mit dem Wind fliegen, im Meerwasser schwimmen wie die Kokosnuß oder im Verdauungstrakt von Tieren anreisen. Tiere können ebenfalls fliegen (Vögel und Fledermäuse), schwimmen (Schlangen und Warane) oder auf von Stürmen entwurzelten, abgetriebenen Baumstämmen verdriftet werden. Zur Etablierung einer Tierart auf einer neu entstandenen ozeanischen Insel reicht natürlich nicht aus, wenn es ein einzelnes Individuum hierher verschlägt. Zur Fortpflanzung braucht es einen Partner der selben Art und ein Ökosystem, in dem es Schutz und Nahrung findet.
Kontinentalinseln dagegen sind in der Regel bereits besiedelt, wenn sie – z.B. durch Anstieg des Meeresspiegels – vom Festland abgetrennt werden.
Doch ob kontinentale oder ozeanische Insel – sobald der Inselcharakter hergestellt und das Inventar an Flora und Fauna komplett ist, beginnt der Prozess der insularen Stammentwicklung: die Arten, die auf der Insel angekommen oder zurückgeblieben sind, entwickeln sich nach den Gesetzen der Evolution. Sie verändern sich und entfernen sich biologisch immer weiter von ihren Vettern und Cousinen auf dem Festland oder den Nachbarinseln, bis sich neue Arten gebildet haben, die sich mit der ursprünglichen Stammspezies nicht mehr kreuzen können. Auf diese Weise bilden sich sogenannte endemische Arten oder Endemiten, die nur in einem ganz bestimmten Gebiet vorkommen. Aufgrund seines Inselcharakters verfügt Indonesien über eine ganze Reihe prominenter Endemiten, wie z.B. den Komodo-Waran, der nur auf der gleichnamigen Insel sowie einer Nachbarinsel und in einem kleinen Gebiet im westlichen Flores vorkommt. Ein weiteres Beispiel sind die vier Arten von schwarzen Schopfmakaken auf Sulawesi, von denen je eine in einem „Arm“ der Insel endemisch ist. Am Fall der Schopfmakaken wird zudem deutlich, dass Inselbildung nicht der einzige Grund für die Entstehung neuer Arten ist. Entscheidend ist die Isolation, also der fehlende genetische Austausch, doch Isolation kann auch durch einen Gebirgszug oder – je nachdem für welche Tierart – durch einen breiten Flusslauf gegeben sein.
Natürlich ist die Stammentwicklung ein Prozess, der sich über Millionen von Jahren hinzieht, und Zeiträume wie der seit dem letzten Anstieg der Meeresspiegel vor ca. 12.000 Jahren reichen nicht aus, um vollständig neue Arten entstehen zu lassen. Doch sie genügen, um Tendenzen und ein mögliches Auseinanderdriften der Arten sichtbar werden zu lassen. Die Tiger und Nashörner des westlichen biogeografischen Hauptraumes mögen hier als Beispiele dienen.
Auf Java gibt es noch einige wenige Nashörner im Nationalpark Ujung Kulon an der westlichen Spitze der Insel. Sie werden einer anderen Unterart zugeordnet als das sumatranische Nashorn, das zwar noch in etwas größerer Zahl vorhanden, aber ebenfalls akut vom Aussterben bedroht ist. Auf Sumatra wird schon seit Jahren die unmittelbar bevorstehende Ausrottung des Sumatra-Tigers eingeläutet. Habitat-Zerstörung und Trophäen-Jagd haben seine Zahl auf ein paar hundert schrumpfen lassen. Auf Java gab es eine eigene Unterart des Tigers, der zuletzt in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts gesichtet wurde. Während einige hartnäckige Biologen noch immer daran glauben, dass der javanische Tiger bis heute in einigen wenigen Exemplaren in den letzten Wäldern Ost-Javas überlebt haben könnte, besteht kein Zweifel daran, dass der balinesische Tiger –ebenfalls eine eigene Unterart – heute ausgestorben ist.
Die letzten 12.000 Jahre haben also ausgereicht, bei diesen beiden Tierarten neue Unterarten entstehen zu lassen und diese (fast) aussterben zu lassen. Es scheint eine Gesetzmäßigkeit der Insel-Evolution zu sein: je kleiner die Landfläche einer Insel, desto anfälliger ist die Tierart gegenüber dem Prozess des Aussterbens. Eine zu kleine Populationsgröße kann zu mangelndem genetischen Austausch (= Inzucht) führen und die Population anfällig für Seuchen machen. Kommt ein gefährlicher Konkurrent um die Nahrungsressourcen – in diesem Fall der Mensch – hinzu, kann das Schicksal der Art schnell besiegelt sein.
Nicht selten führt die Anpassung großer Tiere an den engen Lebensraum einer Insel zur Entwicklung von Zwergwuchs – während kleine Tiere, die auf einer Insel ökologische Nischen mit ausreichend Nahrung und ohne natürlichen Feinde vorfinden, sich zu wahren Riesen entwickeln können! Riesen-Echsen auf Komodo, ausgestorbene, durch Fossilien nachgewiesene Zwergelefanten und „Mini-Menschen“ auf Flores – auch für die extremsten Größenabweichungen bei der Stammentwicklung kann Indonesien mit Prezedenzfällen aufwarten.
Die Muster der Verbreitung von Tierarten sind übrigens nicht immer unmittelbar einleuchtend und halten in Indonesien einige Überraschungen und ungeklärte Fragen bereit. Warum etwa fliegen Vögel wie der Weißhaubenkakadu, der auf Lombok heimisch ist, nicht die wenigen Kilometer hinüber nach Bali? Und wie kam der Elefant, bevor er zum Zwerg wurde, nach Flores? Vorab lässt sich nur soviel dazu sagen, dass manche Tierarten, die durchaus in der Lage sind, weite Strecken zu fliegen, das Meer anscheinend niemals überqueren, während sich andererseits Elefanten an vielen Stellen der Erde – z.B. in Indien bei der Überquerung des Ganges in seinem kilometerbreiten Delta – als ausdauernde Schwimmer ausgewiesen haben.
So ist die Pflanzen- und Tierwelt Indonesiens aufgrund des Inselcharakters des Landes artenreich und eigentümlich, voller Endemiten und merkwürdiger Sonderentwicklungen, und gerade deshalb auch empfindlich und anfällig für Störungen und die Auslöschung ganzer Arten. Nicht umsonst finden sich auf Inseln nicht nur die meisten Endemiten, sondern auch die meisten Beispiele für ausgestorbene oder ausgerottete Tierarten: vom Dodo, der flugunfähigen Riesentaube von Mauritius über den Moa, den neuseeländischen Riesen-Emu, der bereits von den Maori, den polynesischen Einwanderern, ausgerottet wurde, bis hin zum balinesischen, javanischen und in kürze vermutlich dem sumatranischen Tiger – nur allzu oft hat der Weg der Inselevolution sich als Sackgasse erwiesen.
Literatur:
Janet Cochrane: “Nationalparks der Welt – Indonesien”
David Quammen: „Der Gesag des Dodo – Eine Reise durch die Evolution der Inselwelten“
Alfred Russel Wallace: „The Malay Archipelago“
Simon Winchester: „Krakatau – Der Tag, an dem die Welt zerbrach“