von Karl Mertes

Stolz zeigte Amina wie sie am Computer arbeiten konnte, und der zeigte auch an, wenn sie mal etwas falsch schrieb. „I can speak also English“ drängte sich Arif dazwischen. Muntere Kinder zeigten uns mit Begeisterung ihre einfachen Klassenräume, die erstaunlicherweise mit einiger moderner Technik ausgestattet waren. Überraschend war es schon, weit abgelegen von der Hauptstraße südöstlich von Perbaungan in einem riesigen Plantagengebiet im Norden Sumatras eine solche Schule anzutreffen. Etwa vierzig bis fünfzig Jungen und Mädchen, davon die meisten mit Kopftuch, tummelten sich auf dem Schulhof.

Die Vorgeschichte

Die Madrasah Aliyah Bingkat-Oberschule gibt es unterdessen seit zehn Jahren. Als Fortsetzung der bereits 1988 gegründeten Hauptschule war sie unter der Obhut des Religionsministeriums gegründet worden, um nicht direkter staatlicher Kontrolle unterworfen zu sein. Den so zugestandenen Freiraum nutzte eine engagierte Gruppe von damals jungen Leuten, um eine alternative Bildungsstätte aufzubauen. Mit wenig Geld aber viel Leidenschaft gingen sie ans Werk – und mit einer Vision.

„Wir wollen den Kindern nicht nur Lesen-Schreiben-Rechnen beibringen, nein, sie sollen hier auch lernen, sich als Mitglied der Gesellschaft behaupten zu können“ stellt Darno, der Initiator, fest. Und: „Ich selbst weiß, was es heißt, als Kind armer Eltern keine ordentliche Schulausbildung bekommen zu können.“ Das sagt jemand, der nicht nur aus armen Verhältnissen stammt, der auch in einer Familie aufwuchs, die ab Mitte der 60er Jahre in den Strudel der Verfolgung ehemaliger Kommunisten – oder solcher, die dafür gehalten wurden – geraten war. Die Suharto-Ära war auf der einen Seite zwar durch beachtliche Anstrengungen im Schulwesen gekennzeichnet, auf der anderen Seite aber auch durch Willkür, Indoktrination und rücksichtslose Geschichtsklitterung. Die „Ex-Tapol“ genannten Verfolgten der Kommunistenhysterie nach 1965 waren vom öffentlichen Leben ausgeschlossen, und auch deren Familien und Nachkommen. So kümmerten sich in den 70er und 80er Jahren des letzten Jahrhunderts die Behörden nicht um angemessene und differenzierte Schulangebote in der von Plantagen dominierten Region, eben weil dort Kritik und Widerstand aufgekeimt war und die unterdessen zerschlagene Kommunistische Partei PKI Anhänger gehabt hatte. Viele Eltern sagten, dass es keinen Zweck habe, die Kinder zu Schulen zu schicken, denn später würden sie ohnehin keinen entsprechenden Beruf ergreifen können.

Darno selbst konnte zwar eine Ausbildung als Lehrer absolvieren (weil seine Eltern ihr Hab und Gut verkauft hatten), erhielt aber dennoch im ersten Anlauf trotz guter Leistungen kein Examen zugestanden.

Ende der 80er Jahre ergriffen Darno und seine Kollegin Lely in dem Dorf Bingkat eine bemerkenswerte Initiative: Er, inzwischen ausgebildeter Lehrer und hier Zuhause, kümmerte sich um Lehrinhalte und -mittel und Lely sorgte sich um die Kinder der entlegenen Dörfer. Arm waren – und sind – die Leute nach wie vor. Aber solidarisch. Sie fördern das außergewöhnliche Schulprojekt nach Kräften. Und die Plantagenarbeiter und Bauern gewähren auch Kindern aus entfernteren Gegenden Unterkunft. Dafür müssen die Jungen und Mädchen im Haushalt und auf den Feldern mitarbeiten. Die Lehrer arbeiten meist unentgeltlich, oft als Freiwillige von befreundeten Hilfsorganisationen. Diese Art von Solidarität, weitere Spenden und
– inzwischen – auch gelegentlich staatliche Unterstützung machen den Schulbetrieb möglich.

Eine Bürgerschule

Als Konzept, hatten die Gründer rasch erkannt, wollten sie sowohl formelle Bildungsinhalte als auch informelle in das Curriculum der Privatschule übernehmen.
Auf dem Lehrplan stehen die Inhalte normaler Kulturtechniken, aber auch Demokratie, Menschenrechte oder Gender-Fragen. Praktische Fertigkeiten erlernen die Kinder, weil sie sich mit um den Erhalt der Gebäude und Anlagen kümmern. Die zeitweise mehr als 200 Schüler lernen ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten, sie üben sich im Diskutieren, kritischen Analysieren ihrer Lebensumstände, legen die Schulordnung gemeinsam mit den Lehrern fest und sammeln praxisorientierte Erfahrungen durch Teilhabe am Gemeindeleben. Sie erleben soziales Engagement und können so zu aktiven, kritischen und rücksichtsvollen Bürgern erzogen werden.

Die Bingkat-Schule vermittelt kulturelle, politische, soziale Bildung im weitesten Sinne. Auf dem Stundenplan stehen also tatsächlich nicht nur konventionelle Fächer, sondern auch der Austausch mit den ortsansässigen Bauern oder Arbeitern ebenso wie mit geladenen Fachleuten zu aktuellen Fragen. Kontakte zu Bürgerinitiativen, Frauenorganisationen, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen zählen zur Tagesordnung. Die Schüler pflanzen ihren eigenen Reis an und beschäftigen sich mit alternativen Agrartechniken ohne chemische Düngemittel und Pestizide. Im Rahmen von Exkursionen haben sie neulich Kontakt bis nach Kalimantan aufgenommen, von wo nun auch Schüler nach Sumatra kommen. Deren Eltern unterstützen die Schulgemeinschaft mit Reislieferungen und erwarten nach Rückkehr ihrer Kinder Anregungen für ihren bäuerlichen Alltag

Kritikfähig werden die Schüler gemacht. Das vermittelt gewiss Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit. Es gibt allerdings auch die Erfahrung, dass außerhalb von Bingkat solche Qualifikationen nicht immer geschätzt werden – in einer durchweg patriarchalisch und hierarchisch strukturierten Gesellschaft. „Macht nichts,“ stellte der 16jährige Ruslin fest, „ich lerne hier zunächst, mir über mich und meine Situation klar zu werden. Und dann lerne ich auch noch, wie ich darüber mit anderen Menschen reden, wie ich argumentieren kann. Damit bin ich zufrieden. Ich will ja ein engagierter Bürger in Indonesien sein.“

Eine Modellschule

Der Besucher ist verwundert, wenn er die schlichten Schulhäuser, die anspruchslosen Unterbringungen und die genügsamen Lebens- und Arbeitsbedingungen kennen lernt. Dort herrscht allerdings eine Aufbruchstimmung, ein Geist, ein Mut, der ansteckend wirkt.

Manche Irritation ist natürlich mit dieser Schul-Initiative einhergegangen. Vor allem: „Die können doch nichts, das ist nur eine Privatschule von Bauern, das ist eine NGO-Schule“. Beim Vergleich der Schulabschlüsse und Erfolgen, die Schüler anschließend auch auf Hochschulen vorweisen konnten, hat sich allerdings gezeigt, dass Bingkat sehr wohl mithalten kann.

Formelle Bildung im Klassenraum steht neben informeller Bildung im Lebensumfeld auf dem Programm. „Als gemeinschaftsorientierte Schule für soziale Aktivisten“ sieht einer der Lehrer das weit über Bingkat bekannt gewordene Modell. Neben Jungen und Mädchen aus Bingkat selbst lernen viele Kinder aus umliegenden Dörfern und von anderen Orten hier. Sie müssen kein Schulgeld zahlen und keine einheitliche Uniform tragen.

Ein Internat steht für Externe zur Verfügung. Eine Reihe von Kindern werden aber auch bei Familien untergebracht, die als Unterstützung der Schule eine Patenschaft übernehmen. In Folge der Tsunami-Katastrophe 2004 kam zu einer besonderen Hilfsaktion: 20 Kinder, meist Waisen, wurden eingeladen, um weiter zur Schule gehen zu können. Seinerzeit hat u.a. die Österreichisch-Indonesische Gesellschaft diese Kampagne unterstützt. Spendengelder wurden sozusagen als Kredit an die Familien gegeben, die die neuen Kinder aufzunehmen bereit waren. Dieser zinslose Kredit musste in einem definierten Zeitraum wieder zurückgezahlt werden, um dann andere Familien in die Lage zu versetzen, sich um fremde Kinder zu kümmern.

Zuvor hatte auch die Deutsch-Indonesische Gesellschaft mit einer Spende den Schulbetrieb unterstützt. Beim „Indonesientag“ am 16. August 2008 in Köln hat die DIG erneut durch eine Tombola einen Spendenbetrag eingenommen, der kürzlich in Bingkat abgegeben werden konnte.

Als größerer Sponsor hat sich u.a. die Hilfsorganisation Ashoka seit Jahren um die Schule bemüht. Der Betrieb kann nur durch finanzielle Spenden, andere Zuwendungen oder konkrete Mitarbeit vor Ort aufrecht erhalten werden.

Und die Zukunft ?

Erfolgreich ist es schon in einigen Fällen gelungen, dass Schüler nach Abschluss und Rückkehr in ihre Dörfer sozusagen Zweigstellen ins Leben gerufen haben. Ein Transfer der Idee, des Konzeptes findet statt.

Lehrer, die zeitweise in Bingkat tätig waren, haben Erfahrungen und Anregungen mitgenommen; neue Lehrkräfte kommen mit neuen Ideen und pädagogischen Ansätzen.

Aus unserer Sicht erinnert diese Entwicklung an die Zeit um 1920 in Deutschland, als in der Weimarer Republik das, was heute „Reformpädagogik“ heißt, praktiziert wurde. Petersen, Lichtwark, Reichwein, Kerschensteiner, Montessori waren die Protagonisten. Entwickelt wurden Gesamt- und Gruppenunterricht, Arbeitsgemeinschaften, Landerziehungsheime, Schülermitverwaltung, etc. Es ging seinerzeit um eine Revision der traditionellen Pädagogik. Und genau da knüpft offenbar Bingkat an.

Eine vielversprechende Aktivität, die Wagemut braucht – und auch Unterstützung von außen!

aus KITA 3/08