von Karl Mertes

Professor Irene Hilgers-Hesse ist in ihrem 100. Lebensjahr gestorben. Seit Jahrzehnten war sie als „Ibu“ bekannt – was soviel wie „Mutter“ auf Indonesisch heißt. Diesen vertraulich-ehrfürchtigen Titel hatte sie sich als „Mutter der Kölner Malaiologie“ und langjährige treibende Kraft der Deutsch-Indonesischen Gesellschaft erworben. Der akademische Raum einerseits und die Aktivitäten im Umfeld der Freundschaftsgesellschaft andererseits waren ihr Lebensinhalt.

1905 in Köln geboren, hatte sie nach dem Abitur am Königin-Luise-Gymnasium 1924 den seinerzeit noch ungewöhnlichen Plan gefasst, studieren zu wollen. Sie begann ihr Studium der Kunstgeschichte in Köln und Berlin, wechselte 1929 nach Hamburg, wo sie Völkerkunde, Austronesische Sprachen und Kulturen sowie Klassische Archäologie belegte. 1932 promovierte Irene Hilgers-Hesse in Völkerkunde mit „Die Darstellung der menschlichen Gestalt in Rundskulpturen Neumecklenburgs“, einer ehemals deutschen Kolonie im heutigen Papua-Neuguiena.

Im Dritten Reich war sie erklärte Gegnerin des Nazi-Regimes, befasste sie sich intensiv mit Archäologie und wurde 1939 in einer Wehrmachts-Dienststelle verpflichtet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sie sich im Rautenstrauch-Joest-Museum und lehrte an der Universität zu Köln ab 1953 Malaiologische Sprachen. Es gab seinerzeit noch kein eigenständiges Fach – und durch die (erste !) entsprechende Habilitation zum Thema der „Entwicklungsgeschichte der Bahasa Indonesia unter besonderer Berücksichtigung syntaktischer Fragen“ war die Basis für ein eigenständiges Fach gelegt. Unter ihrer wesentlichen Mitwirkung wurde die „Malaiologie“ begründet – ähnlich der Indologie oder Sinologie eine akademische Disziplin, die sich mit Sprachwissenschaften wie mit Völkerkunde befasste. In Köln ist allerdings nie ein demgemäßer Lehrstuhl eingerichtet worden; Frau Hilgers-Hesse erhielt eine außerordentliche Professur am Malaiologischen Apparat im Orientalischen Seminar. Ab 1959 unterrichtete sie auch an der Universität Bonn.

Als Hochschullehrerin war sie stets um regen Kontakt mit Nachbardisziplinen bemüht, was seinen Ausdruck unter anderem in der zusammen mit Prof. Wiesner gegründeten „Kölner interdisziplinären Konferenz für gegenwartsbezogene Südostasienforschung“ – kurz KIK genannt – fand. Zahlreiche Kongresse, Vortragsreihen und die Betreuung einer Vielzahl von Promotionen und Habilitationen belegen die einzigartigen akademischen Anstrengungen der Verstorbenen. Zu ihren mehr als vierzig Veröffentlichungen zählte neben dem Indonesisch-Deutschen Wörterbuch (1960) auch die Anthologie „Perlen im Reisfeld“ (1971), in der unter Mitarbeit von dem bekannten indonesischen Schriftsteller und Publizisten Mochtar Lubis erstmals eine Sammlung moderner indonesischer Kurzgeschichten in Deutsch erschien.

Eine besondere Würdigung der Professorin bezeugen zwei Festschriften, herausgegeben und verfasst von Schülern und Freunden: „Die deutsche Malaiologie“ (Karl-Heinz Pampus, Bernd Nothofer, Heidelberg 1988) und „Kölner Beiträge aus Malaiologie und Ethnologie zu Ehren von Frau Prof. Dr. Irene Hilgers-Hesse / Kölner Südostasien-Studien Bd. 1“ (Fritz Schulze, Kurt Tauchmann, Bonn 1992). 1990, als 75jährige, schied sie aus dem Hochschuldienst aus, den sie vier Jahrzehnte maßgeblich mit geprägt hatte.

Über die nachhaltige Tätigkeit im universitären Raum hinaus war sie aber vor allem auch in der Deutsch-Indonesischen Gesellschaft aktiv. Anfang 1950 fand sich ein Kreis Interessierter im Umfeld des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums für Völkerkunde zusammen. Als Beitrag zum Aufbau im Nachkriegsdeutschland suchten die Akademiker Funke, Koernicke, Stöhr, Trimborn und andere internationale Verbindungen. Neben bereits bestehenden Beziehungen nach Indonesien, vor allem durch den Bonner Botaniker Koernicke – der lange in Bogor gearbeitet hatte – gab es Kontakte zu den Niederlanden. Am 15. Mai 1950 wurde schließlich die Deutsch-Indonesische Gesellschaft ins Leben gerufen, zu der sich die junge Wissenschaftlerin gesellte, die dann mehr als vierzig Jahre deren Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin wurde. Irene Hilgers-Hesse verkörperte wie niemand sonst über Jahrzehnte das Bemühen sowohl wissenschaftlichen Austauschs als auch menschlicher Begegnung zwischen zwei Ländern, die doch nur eine marginale Tradition bilateraler Beziehungen hatten.

Schon früh rief sie die „Mitteilungen der Deutsch-Indonesischen Gesellschaft“ ins Leben, einer anfangs nur hektographierten Loseblattsammlung von Veröffentlichungen über Indonesien – später wurde diese Initiative durch das hier vorliegende Magazin KITA fortgesetzt. In den „MDIG“ erschienen Reiseberichte, wissenschaftliche Abhandlungen, Rezensionen, Erzählungen und praktische Artikel zu Kontakten nach Südostasien.

Die DIG ist gegründet worden, als es noch keine diplomatischen Beziehungen zwischen den jungen Republiken Indonesien und Deutschland gab. Somit war die Gesellschaft anfangs auch Mittelpunkt bei den Anbahnungen politischer und wirtschaftlicher Kontakte, wobei der Schwerpunkt aber immer auf dem kulturellen Austausch lag. Zu Beginn wurden namhafte deutsche Firmen Mitglied und Förderer der DIG, was u.a. in den legendären Jahresempfängen des Vereins im Hotel Exelsior zum Ausdruck kam. Die DIG war sogar in der Lage, 1953 eine Expedition nach Indonesien auszurichten – noch per Schiff machte sich eine Delegation auf und wurde auch vom Präsidenten Soekarno empfangen. Irene Hilgers-Hesse selbst fuhr 1956 zum ersten Mal nach Indonesien, um ihr Wörterbuch vorzubereiten.

In Köln veranlasste sie seit den 50er Jahren hunderte von Vorträgen und Diskussionen, die sich mit Indonesien befassten. Sie war Motor und Mentor der DIG. In der Geschäftsführung des Vereins ist sie lange von ihrer Schwester unterstützt worden. Unermüdlich und einfallsreich hat sich Irene Hilgers-Hesse um die Verbreitung von Informationen zu Indonesien eingesetzt. Tradition und Kontinuität sowie Wandel waren ihr eine Triebfeder. So sehr sie sich um die Wahrung und Überlieferung historischer Fakten mühte, so sehr war sie auch an modernen Entwicklungen interessiert. Namentlich für das Werk von Pramoedya Ananta Toer hat sie sich immer wieder eingesetzt; ihr Lieblingsautor war Trisno Soemardjo.

In den 50er bis 80er Jahren des letzten Jahrhunderts hat sie mit unbeschreiblicher Aufopferungsgabe und Energie die Existenz und Arbeit der DIG vorangetrieben. Neben den vielen von ihr initiierten öffentlichen Veranstaltungen war sie auch vielen Indonesiern wie Deutschen eine persönliche Ratgeberin und Helferin. Sie hat Außerordentliches geleistet – und dies stets sehr bescheiden und unter Hintanstellung persönlicher Belange. Ihr Leben hat Irene Hilgers-Hesse in den Dienst der Sache gestellt: Dem Brückenschlag zwischen zwei Kulturen, zwei Völkern; sie war eine große Kommunikatorin, sie hat Forschungs- und Friedensarbeit geleistet.

Dem regen Geist, den starken Emotionen wollte in den letzten Jahren der Körper nicht mehr folgen. Lange Zeit war sie auf fremde Hilfe angewiesen. Ende April 2004 ist sie von uns gegangen, die „Ibu“, der wir viel verdanken, die ein Vorbild bleibt.

Karl Mertes
Präsident der DIG