von Rüdiger Siebert

Ein Mann feiert seinen 80. Geburtstag. Er kann dies unbehelligt im Kreise von Freunden und Bewunderern tun. In seinem Besein wird er bei einer öffentlichen Veranstaltung geehrt. Er hält eine Rede. Die Medien berichten darüber. So geschehen am 6. Februar 2005 in Jakarta. Dies wäre jenseits indonesischer Grenzen kaum eine Erwähnung wert, handelte es sich bei diesem Mann nicht um Pramoedya Ananta Toer. Nicht allein die Geburtstagsfeier mit der von keiner Polizei und keinem Spitzel des Staates gestörten Anerkennung seines Lebenswerkes ist das Besondere, sondern bereits die Tatsache, daß die Veranstaltung überhaupt stattfinden kann in Würde und Anstand. Vor wenigen Jahren noch wäre dies unvorstellbar gewesen.
Pram, wie ihn seine Freunde nennen, ist sichtlich gealtert, stützt sich auf einen Stock. Der Moderator muß die Fragen aus dem Publikum wiederholen. Pram ist seit seiner Haft während des Suharto-Regimes hörgeschädigt infolge der Schläge, die er dabei von den Wachsoldaten erlitten hatte. Ob er an Rache denke nach all dem, was ihm von Staats wegen widerfahren sei? Der alte Mann schüttelt den Kopf und lächelt in milder Greisenart. Nein, von solchen Gedanken habe er sich frei gemacht, sie würden ihn nicht mehr belasten, sagt er mit leiser Stimme, doch er würde sich an alle Umstände seiner Freiheitsberaubung erinnern, auch an den Namen dessen, der sein Ohr verletzt habe. Er habe seinen inneren Frieden gefunden, sagt Pram. Der Tod könne ihn nicht mehr schrecken. Es sind bewegende Momente an diesem 6. Februar 2005 in Jakarta. Ein Ausgestoßener meldet sich noch einmal zu Wort. Ein über Jahrzehnte zur Sprachlosigkeit Verdammter beweist, daß er trotz aller Anfeindungen und Verfolgung seine Sprache nicht verloren hat. Der Mann, der Willkür und Diktatur nichts anderes entgegenzusetzen hatte, als seine Worte, ist Sieger geblieben in diesem Kampf.
Der 80. Geburtstag war ein letzter Höhepunkt in seinem Leben. Am 30. April 2006 ist Pram gestorben.

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Es gilt, einen Literaten von Weltgeltung wahrzunehmen, der im Westen, in Deutschland zumal, noch immer zu wenig beachtet wird. Wer Indonesien und die kulturpolitische Situation der Intellektuellen in diesem südostasiatischen Inselreich in Geschichte und Gegenwart verstehen will, muß sich mit Pramoedya Ananta Toer und seinem Werk auseinandersetzen. Nicht nur das eigene Schaffen des Autors spielt dabei eine zentrale Rolle, auch seine Wirkung und die Reaktionen der indonesischen Gesellschaft, ihrer politischen Führung und ihre Leser spiegeln die Nöte, Zwänge und Zwist all derer wider, die um das moderne Indonesien kämpften und es mit ihrem Machtmissbrauch verrieten.
Prams Leben, das am 6. Februar 1925 in Blora im östlichen Java begann, ist unmittelbar mit dem spannungsreichen und leidvollen Werden des postkolonialen Indonesien verknüpft. Er wuchs mit acht Geschwistern in einem nationalistisch gesinnten Elternhaus auf. Der Vater war Lehrer und zeitweise auch Direktor der örtlichen Schule „Budi Utomo“, eine der Keimzellen der Freiheitsbewegung. Schon der Vater griff zur Feder, schrieb in Javanisch und zog sich das Verbot seiner Bücher durch die niederländischen Kolonialherren zu. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges, in denen der indonesische Drang zur staatlichen Selbständigkeit den großen Durchbruch errang, und danach, in den Endvierzigern, gehörte Pram zu den jungen Nationalisten, die die neue Zeit mit dem Gewehr in der Hand erkämpften – für ihn war das gleichzeitig die Herausforderung, mit dem geschriebenen Wort zu wirken. Es wird der Inhalt seines Lebens.
Er bezahlte teuer dafür. Die Holländer steckten ihn hinter Gitter. Nach der Proklamation der neuen Republik Indonesia am 17. August 1945 und der faktischen Souveränität knapp fünf Jahre später unterstützte er die Politik des ersten Präsidenten, des charismatischen Sukarno. Doch Pram musste bald erkennen, wie die Ideale der Revolution verraten und verkauft wurden. Die von Sukarno propagierte Zusammenarbeit zwischen Nationalisten, Religiösen und Kommunisten – damals NASAKOM genannt – erwies sich als brüchig und wegen rivalisierender Interessen als nicht tragfähig für den Aufbau eines völlig neuen Staates. Sukarno griff mehr und mehr zu den Machtinstrumenten einsamer Entscheidungen. „Gelenkte Demokratie“ hieß das. Pram verteidigte die Belange der kleinen Leute und die der chinesischen Minderheit, die von rassistischer Propaganda und Diskriminierung bedroht waren. Deshalb kam Pram unter Sukarnos Präsidentschaft abermals ins Gefängnis.
Nach dem Sturz Sukarnos und dem Aufstieg des Siegers im blutigen Machtpoker, dem General Suharto, geriet Pram wie Hunderttausende seiner Landsleute in den Mahlstrom des mörderischen Aufräumens. Eine halbe Million Menschen wurde umgebracht. Nach dem 30. September 1965 paßte sein kritischer Geist nicht mehr in die radikal gewandelte politische Landschaft. Pram wurde in verschiedenen Gefängnissen festgehalten und ein Jahrzehnt lang in den Internierungslagern der Molukken-Insel Buru im östlichen Indonesien der Freiheit beraubt. Wie Tausende andere Häftlinge: Ohne Anklage, ohne Prozeß, ohne Urteil. Ganz so, wie es vier Jahrzehnte später den Gefangenen im rechtsfreien Raum des amerikanischen Lagers Guantanamo auf Kuba widerfährt. Welch menschenverachtende Parallelen! Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen sowie zahlreiche Persönlichkeiten in aller Welt hatten damals Prams Schicksal, das er mit Zehntausenden Indonesiern teilen mußte, zum exemplarischen Fall gemacht. Erst 1979 wurde Pram entlassen – nicht als freier Mann, sondern als ehemaliger politischer Gefangener, als „Ex-Tapol“, wie die indonesische Abkürzung seither heißt. Die Behörden in Jakarta hielten Pram weiter unter Kontrolle. Seine Bücher wurden verboten, schon deren Besitz wurde strafbar. Öffentliche Auftritte blieben ihm verwehrt.

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Seine führende Rolle in der kommunistisch geprägten Kulturorganisation LEKRA war ihm zum Verhängnis geworden. Eine widerspruchsvolle Rolle noch heute. Schriftsteller- und Künstlerkollegen aus jenen 1950er/60er Jahren werfen Pram Intoleranz und Unduldsamkeit vor; er habe die geistige Pluralität verraten, als er noch den Einfluß dazu hatte. Ein schlimmer Vorwurf, der 1995 in spektakulärer Neuauflage die intellektuellen Geister Indonesiens erregte. Die Magsaysay-Stiftung in Manila hatte Pramoedya den Literaturpreis jenes Jahres verliehen, eine der angesehensten Auszeichnungen Asiens, eine Art Literaturnobelpreis des Ostens. Dagegen legten 26 prominente indonesische Intellektuelle energischen Widerspruch ein. Unter ihnen der Schriftsteller Mochtar Lubis, der 1958 selbst Magsaysay-Laureat gewesen war und 1995 demonstrativ in Manila wegen Prams Nominierung seinen Preis zurückgegeben hat.
Noch saßen das vom Militär gestützte Regime Suharto und der diktatorisch regierende Präsident fest im Sattel. Pram im Stadtarrest auf Jakarta beschränkt, mit Berufs- und Publikationsverbot belegt, konnte sich weder öffentlich wehren oder rechtfertigen noch nach Manila reisen. In der philippinischen Hauptstadt nahm seine Frau für ihn den Preis entgegen. Seiner verlesenen Dankesrede hatte Pram den Titel gegeben: „Literatur, Zensur und der Staat: Wie gefährlich sind Geschichten?“ Darin bekannte er sich zur Aufgabe des Schriftstellers, eine moralische Instanz zu sein und erklärte: „In welcher Weise kann Literatur die Sicherheit des Staates gefährden: Meiner Meinung nach kann kein literarisches Werk, können keine Geschichten welchen Staat auch immer bedrohen. Die Stories sind ganz aus dem geistigen Vermögen des Autors verfasst; es ist doch klar, woher die Stories stammen; und es ist auch klar, daß diese Stories das Produkt einer Person sind, eines Individuums ohne irgendeine Privatarmee, Geheimpolizei oder gedungene Meuchelmörder. Der Autor bezieht sich einzig und allein auf die Lebensumstände, ihnen ist er verpflichtet…“
Es war nach Jahrzehnten des Schweigenmüssens das erste Mal, daß Pram in den indonesischen Medien wieder zum Thema wurde, zum Stein des Anstoßes. Freilich: nicht er selbst durfte sich zu Wort melden, es wurde vielmehr über ihn geschrieben. Es kam zu keiner seriösen Klärung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Von ernsthafter Aufarbeitung seines literarischen Wirkens oder gar von einer Rehabilitierung konnte noch lange keine Rede sein. Nur eines war klar geworden: Seine eigenen Wege, die unter wechselnden politischen Systemen in Indonesien dreimal in die Sackgasse der Gefängnisse und Straflager führten, zeigen eklatant, wie folgenreich das gestaltete Wort ist, vor dem sich die Mächtigen, deren Machtbasis von keiner demokratischen Willensbildung legitimiert ist, so sehr fürchten, daß seine Urheber zum Verstummen gebracht werden sollen. Vergebens, wie das gelebte Beispiel Pram belegt.
Die Magsaysay-Urkunde zierte sein Wohnzimmer nach dem Umzug in das neue Haus am Rand der westjavanischen Stadt Bogor; ebenso ist da die Urkunde eines UNESCO-Preises und ein großes Foto der Zeitschrift „Trouw“ zu sehen, das ihn während der blutigen Unruhen vom Juli 1996 in Jakarta zeigt, von Reportern umringt. Gleich daneben fetzen sich zwei Kampfhähne, daß die Federn fliegen. Eine Grafik von Günter Grass, die ihm der deutsche Kollege bei dessen Indonesienbesuch 1981 als Zeichen seiner Verbundenheit geschenkt hatte. „Seit vielen Jahren werbe ich für den Autor Pramoedya Ananta Toer“, so Günter Grass, „es sind vor allem seine Bücher, die uns das nach wie vor verschlossene Inselreich Indonesien und dessen wechselvolle Geschichte eröffnen; Bücher, die allen Widrigkeiten zum Trotz entstanden sind und die den Leser, wenn er nur will, reich machen können.“ Und noch ein Bild hängt da im Hause Pram: das Doppelporträt eines javanischen Paares, Mann und Frau in würdiger Ernsthaftigkeit, nicht nur historisch entrückt, sondern auch vom Betrachter durch Blick und Noblesse distanziert, die Kleidung traditionell. Der Betrachter ahnt, in welchen steifen Korsettstäben der Konvention und altüberlieferter Regeln die beiden gelebt haben müssen. Es sind Prams Eltern.

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In einer Vielzahl von Texten hat Pram das Unrecht zu Papier gebracht, das selbst erlittene, und das Unrecht, unter dem so viele andere zu leiden hatten und haben. Der Essayist, Historiker, Romancier tat es in den unterschiedlichen Formen literarischer Mitteilung. Als dokumentarische Sammlung der Erlebnisse und Ereignisse auf der Gefangeneninsel Buru ist 1999 erschienen: „Nyanyi Suni Seorang Bisu. Catatan catatan dari Pulau Buru“; unter dem Titel „Stilles Leid eines Stummen. Aufzeichnungen aus Buru“ kam die deutsche Übersetzung heraus. Es ist das wohl persönlichste, intimste Zeugnis Prams, der das geistige Indonesien von Weltrang repräsentiert. Wer in Deutschland während der 1970er Jahre etwas vom Schicksal der „Tapol“ erfahren wollte, musste bei Amnesty International nachfragen. Die Informationen waren lückenhaft. Der Überwachungsstaat den Präsidenten Suharto und seiner sogenannten „Neuen Ordnung“ funktionierte perfekt. Die Verbannten von Buru lebten in völliger Isolation. Wer heute, nach so langer Zeit, in den Aufzeichnungen des Pramoedya Ananta Toer nachlesen kann, was sich damals auf der Insel Buru ereignete, ist zutiefst bewegt, versteht die historischen und politischen Zusammenhänge besser und sieht die endlose Blutspur des Suharto-Regimes – eine Blutspur, die auch nach dessen Ende im Mai 1998 bis in die Gegenwart reicht.
Die Entstehungsgeschichte der Texte ist aufschlussreich. Es sind Tagebuchnotizen; historische Betrachtungen aus dem Gedächtnis eines Mannes, der keine Bücher zur Verfügung hatte; Briefe an seine Kinder, die gar nicht abgeschickt werden durften; Aufsätze, mit denen sich ein Intellektueller geistig fit zu halten versuchte. So unterschiedlich die Themen und die literarische Qualität, so eindringlich die Botschaft: mit den Mitteln der Sprache und der Schrift ein Mensch zu bleiben, sich der geistigen Herausforderung zu stellen und die Würde zu bewahren, die mit allen Instrumenten der staatlichen Gewalt zerstört werden sollte. In den ersten Jahren auf Buru war es Pram verboten, überhaupt zu schreiben; später erhielt er die Erlaubnis, blieb aber unter ständiger Kontrolle seiner Bewacher. Viele seiner Manuskripte wurden konfisziert, vernichtet und sind seither unauffindbar. Manches Papier konnte der Autor verbergen und retten, einzelne Texte sogar herausschmuggeln. Die Zerrissenheit der Aufzeichnungen und ihr fragmentarischer Zuschnitt spiegeln ein Jahrzehnt der Ausnahmesituation auf Buru wider. Nichts ist aus einem literarischen Guß, alles zusammen wird zum Zeugnis der Suharto’schen „Neuen Ordnung“, „deren Fundament“ – so Pram – „aus Massenmord gegossen war … ein militärisches Regime, in dem Einschüchterungen und Lügen an der Tagesordnung waren“. Pram erzählt sachlich, sehr zurückhaltend, nüchtern. Opfer und Chronist zugleich. Gerade dadurch wird das Ungeheuerliche des erlittenen Unrechts bloßgelegt. Wir erfahren vom mörderischen Alltag der Sträflingsinsel Buru, gelegen im Archipel eines Willkürstaates. Pram beschreibt die Grausamkeiten einzelner Soldaten und Kommandeure und Aufseher, aber er belässt es nicht beim anekdotischen Hinweis auf die individuelle Schuld und die korrupte Bereicherung einzelner Militärs, die aus dem Blut und Schweiß der Gefangenen ihren Profit pressten. Die Aufzeichnungen fügen sich zur Demaskierung eines menschenverachtenden Systems, das sich zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes der Zustimmung und Kooperation westlicher Regierungen erfreuen konnte. Bundeskanzler Helmut Kohl, in jenen Jahren gern gesehener Staatsgast in Jakarta, bezeichnete ausdrücklich und weit über diplomatische Floskeln hinaus Präsident Suharto als seinen „Freund“.

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Es waren die Jahre, in denen von 1979 an Pram in seinem Haus in Jakarta unter Arrest lebte und die Stadt nicht verlassen durfte. Mehrere Male besuchte ich den Verfemten unter konspirativen Umständen. Rückblende Mitte 1990: Als ich in seinem Viertel Utan Kayu aus dem Taxi stieg und mich suchend in der engen Straße Mulia Karya II umschaute, zeigten sie Nachbarn gestikulierend die Richtung. Eigentlich wollte ich ja wieder mal nicht auffallen, überzeugt, das Prams Domizil bewacht wird von Zuträgern, die der Polizei melden, wer den zur Unperson degradierten Autor besucht. Aber es war offensichtlich, wenn in den schmalen ruhigen Straßen des Kehakiman Kompleks’ mit den einfachen Häusern der unteren Mittelklasse in gartenfreundlicher Umgebung ein Fremder weißer Hautfarbe auftauchte, dann konnte es wohl nur ein Gast auf der Suche nach Pram sein.
Es ist ein freundliches Wiedersehen. Ich hatte ihn gebrechlich in Erinnerung, ein verlöschendes Licht, ein Mann am Ende seiner Dienstfahrt durch die jüngere Geschichte Indonesiens. Doch da empfängt mich ein sportlich wirkender Mann, lachend und rauchend.
„Ja, seit ich wieder rauche, geht es mir besser“, sagt er, alle ärztlichen Ratschläge missachtend. „Wenn ich nicht rauche, kann ich nicht denken“, erklärt er und macht deutlich, daß er seinen Widersachern mit einem Verzicht auf die geistige Potenz keine Freude zu machen gewillt sei.
Ich bin erstaunt, ihn in solcher Frische anzutreffen. Diabetes mache ihm zu schaffen, erzählt Pram eher nebenbei, und das Gehör habe leider nachgelassen als Folge der Gewalt auf Buru; aber er weist die Hilfe seiner Frau zurück, die anbietet, bei unserem Gespräch zu vermitteln. Sie lächelt geduldig. Eine rundliche freundliche alte Dame, die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Ihr ist nicht anzusehen, durch welche Prüfungen, Anfeindungen, Bedrückung sie mit ihren Kindern ein Leben lang zu gehen hatte, als Frau eines Mannes, der Jahrzehnte unter wechselnden Herrschern im Gefängnis saß. Nicht weil er mordete oder sich kriminell bereicherte, sondern: weil er schrieb.
Ich habe die angenehme Aufgabe, Pram die gerade erschienene deutsche Ausgabe seines Romans „Die Famlie der Partisanen“ zu überreichen, vom Horlemann-Verlag in Unkel am Rhein herausgebracht. Es ist der Verlag, der sich im deutschsprachigen Raum engagiert und allen Schwierigkeiten zum Trotz um die Edition der Werke von Pram kümmert. Seine Bücher sind mittlerweile in zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden. Das weltweite Echo auf sein literarisches Schaffen mag ihn über das Verbot im eigenen Lande (bis zu Suhartos Sturz im Mai 1998) etwas hinwegtrösten. Soweit er Rezensionen und Artikel zu seinem Werk erhalte, sammle er sie, berichtete er, der sein eigener Archivar ist; jedes Jahr komme da eine ganze Broschüre zusammen. Er sagt es mit der Zufriedenheit des Nichtvergessenen und blättert in seinem neuen alten Buch aus revolutionären Tagen, sichtlich erfreut wie jeder Autor, der das gedruckte Ergebnis seines Geistes in Händen hält. Es ist sein erster großer Roman, Ende der 1940er Jahre geschrieben; 1950 unter dem Titel „Keluarga Gerilya“ erschienen.
Ich erzähle Pram von meinen Eindrücken bei der Lektüre. Der Roman gibt der Anonymität historischer Prozesse und der Abstraktion statistisch verfasster Opfer einprägsame Gesichter. Ein Musterbeispiel für Ver-Dichtung komplexer Zusammenhänge. Im Mittelpunkt steht das Leiden einer einzelnen Familie. Die Handlung wird auf knapp drei Tage zusammengedrängt. Mit Rückblenden schafft es Pram, diese temporären Grenzen immer wieder zu durchbrechen, ohne das Geschehen zu unterbrechen, ohne das tödlich endende Drama in seiner Spannung aufzuhalten. Meisterhaft, wie Pram seine Geschichte entwickelt und Menschen agieren, reagieren läßt: Holländer und Indonesier. Die Gleichzeitigkeit der Handlungsstränge im Präsens macht die schicksalshafte Verstrickung der Familienmitglieder deutlich. Unauflöslich sind die von der fremdbestimmten Politik aufgezwungenen Beziehungen zwischen Opfern, die zu Tätern und Tätern, die zu Opfern werden.
Im Mittelpunkt steht der junge Sa’aman, einer der Aktiven im Untergrundkampf gegen die Holländer. Er wird gefangen und schließlich hingerichtet. Bis zur letzten Minute glaubt seine Mutter Amilah an seine Rettung. In dieser verwirrten Frau, die den Boden unter den Füßen verliert und das eigene Haus in Flammen setzt, verkörpert Pram den gewaltvollen Untergang der Kolonialepoche. Zwei weitere Söhne sterben ebenfalls im nationalistischen Widerstand. Ihr Vermächtnis lebt weiter in den drei jüngeren Geschwistern, die den Blick auf eine bessere Zukunft richten und voll berechtigter Sorge sind, daß ihre Hoffnungen unerfüllt bleiben werden.
Gelegentlich wirken die Dialoge auf den deutschen Leser pathetisch, melodramatisch, hölzern. Doch da ist wohl weniger der Zweifel berechtigt, ob sogenannte kleine Leute im damaligen Indonesien tatsächlich so miteinander gesprochen haben; in ihren Sätzen schwingen vielmehr die Visionen und Maximen eines Autors mit, der nicht in einem Elfenbeinturm, sondern hinter Gittern die unmittelbare Gegenwart des Kampfes für eine menschlichere Welt auf Papier bannte. Es ist die Botschaft aus dem Gefängnis, das es zu überwinden gilt. Das ist die Metapher, die Pram – ob veröffentlicht, ob in der Schublade – zu seinem Lebenswerk gemacht hat. Räumlich ist er über Jahre ein Gefangener gewesen, geistig nie.
Ich frage ihn nach den Anfängen solcher Dichtung in holländischer Haft, in der Zelle, wo vor nahezu einem halben Jahrhundert der Roman „Die Familie der Partisanen“ entstand.
Er berichtet, ohne sich besinnen zu müssen; kräftig die Stimme, knarrend, ein Mann, der sich seiner sicher ist. Nach all den Jahren ist die Erinnerung präsent: „Neben der Zwangsarbeit habe ich damals geschrieben. Manchmal nachts bei Kerzenlicht oder mit einer Öllampe unter der Betonpritsche, damit die Aufseher nichts merkten. Das war im holländischen Gefängnis in Jakarta, dem ehemaligen Batavia. Damals war ich noch jung. Ich konnte noch alles tun, was ich wollte. Aber nach den Ereignissen von 1948, nach der zweiten ‚Polizei-Aktion’ der Holländer, bei der sie viele Städte und Regionen der Republik eroberten, war ich völlig hoffnungslos. Ich fühlte, daß ich die Fähigkeiten hatte, etwas zu tun, daß ich es aber nicht schaffte. Damals habe ich versucht, Selbstmord zu begehen, weil ich so niedergeschlagen war. Was ich getan habe, war jedoch nicht Selbstmord im üblichen Sinne, sondern was die Javaner ‚pati raga’ nennen: den Tod des Körpers. Meine Mutter hatte mich gelehrt, im Fall einer Krise ‚pati raga’ zu üben, um alle Gefühle und Gedanken zu vergessen und alles dem Allmächtigen zu überlassen. Sein Wille soll geschehen. Das tat ich damals und sagte mir, wenn ich nicht mehr von Nutzen für dieses Leben bin, soll er mich sterben lassen. Als ich während der Ausübung des ‚pati raga’ bewusstlos wurde, hatte ich im Geiste die Vorstellung eines griechischen Tempels mit Säulen und einem dreieckigen Dach. Darüber strahlte die Sonne. Der Sonnenschein berührte mich. Dann hörte ich eine Explosion und ich erwachte. Danach war meine Hoffnungslosigkeit völlig verschwunden. Ich wurde wieder aktiv wie vorher.“

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Auf der Gefangeneninsel der Suharto-Schergen wurden zwei Jahrzehnte nach diesen Erfahrungen die vier Bücher erdacht, erwogen, skizziert, die Prams Weltruhm begründeten und als das Werk der Insel Buru zum literarischen Begriff geworden sind: „Bumi Manusia“ (deutsche Ausgabe „Garten der Menschheit“), „Anak semua Bangsa“ („Kind aller Völker“), „Jejak Langkah“ („Spur der Schritte“), „Rumah Kaca“ („Glashaus“). Die Entstehung dieser Romane ist zur Legende geworden. Aus den wenigen Paketen, die den Häftling Pram auf Buru von Freunden und der Familie erreichten, und von dem Geld, das ihm überwiesen wurde und tatsächlich in seine Hände gelangte, gab er den Leidensgenossen ab, die einen Teil seiner Feldarbeit übernahmen, während er das in literarische Worte fasste, was er bereits seit Jahren im Geiste mit sich herumgetragen hatte: ein großes Romanwerk, das zu jenen viel-seitigen Büchern wachsen sollte. Nach der körperlich harten Tagesfron hatte Pram den Gefangenen um sich herum die Geschichten erzählt – lange bevor er sie aufschreiben konnte. Damit befand er sich – gezwungenermaßen – in der oralen Vermittlungstradition Indonesiens, wo die alten Legenden, Märchen, die Lebensweisheiten und Familiensagas mündlich von Generation zu Generation weitergegeben werden.
„Ich wusste ja nicht, ob ich je wieder Gelegenheit zum Schreiben erhalten würde und dachte, daß meine Geschichten wenigstens in der Erinnerung einiger Überlebender fortbestehen würden. Dann endlich durfte ich schreiben, und es gelang sogar, durch verlässliche Vermittlung einzelne Manuskripte von Buru herauszuschmuggeln“, erzählte er mir bei einer unserer Begegnungen in Jakarta in den 1980er Jahren.
Nach 1979 war Pram unter Stadtarrest gestellt worden, weiterhin verfemt und zum Schweigen verurteilt. Seine Bücher blieben verboten. Weder sein Fall, noch der der anderen politischen Gefangenen wurde je juristisch aufgearbeitet. Offiziell ist Pram – auch unter den Nachfolgeregierungen seit Suhartos Sturz – bis heute nicht rehabilitiert worden. Die Kontinuität in der Verletzung der Menschenrechte – trotz Wahlen und mehrfachem Präsidentenwechsel in Indonesien seither – läßt Prams Buru-Bücher so bedrückend aktuell erscheinen. 1979 konnten die ersten beiden Bände in Indonesien gedruckt werden. „Bumi Manusia“ und „Anak semua Bangsa“. Der Erfolg war sensationell. Mehrere Auflagen innerhalb weniger Monate. Dann schlug über Nacht der Blitz staatsanwaltlichen Verbotes ein. Daß der damalige Vizepräsident Adam Malik die Lektüre gerade jungen Lesern seines Landes sehr nahegelegt hatte, konnte den Bannstrahl gegen Pram nicht abwenden. Als „Ex-Tapol“, als ehemaligen politischen Gefangenen, hatte ihn das Suharto-Regime zur Unperson gebrandmarkt. Berufsverbot. Auftrittsverbot. Der Mann des Wortes war weiterhin zum Schweigen verurteilt.
Trotz der Strafverfolgung im Zusammenhang mit den ersten beiden Buru-Büchern entschloß sich Prams Verlag in Jakarta, Hasta Mitra, Ende 1985 zur Veröffentlichung des dritten Bandes „Jejak Langkah“; der vierte und letzte Band „Rumah Kaca“ erschien in der Folge. Außerdem kam von Pram Ende 1985 ein Buch mit dem Titel „Sang Pemula“ („Der Pionier“) heraus, das dem indonesischen Journalisten und einem der Wegbereiter der Unabhängigkeitsbewegung gewidmet war: Tirto Adhi Soerjo. Mit den neuen Werken hatte sich Pram nach Jahren des Verstummens wieder unmittelbar in Sachen Indonesien zurückgemeldet. Eine neuerliche Herausforderung des staatlichen Zensors. Am 1. Mai 1986 kam die Reaktion. Der Generalstaatsanwalt in Jakarta untersagte die weitere Verbreitung auch dieser Bücher. Begründung: Darin werde kommunistisches Gedankengut und das Konzept des Klassenkampfes behandelt. Beides stehe im Widerspruch zur indonesischen Gesellschaft der „Pancasila“, der auf Harmonie begründeten Staatsdoktrin. Ein durch nichts zu belegender Vorwurf und die Selbstentlarvung eines Systems, das Pressefreiheit, Meinungsvielfalt und Menschenrechte mit militärischer Gewalt unterdrückte.
Pram in seiner erzwungenen Häuslichkeit ließ nicht locker. Er gab historische Werke anderer Autoren heraus. 1987 erschien „Gadis Pantai“ (deutsche Ausgabe „Die Braut des Bendoro“), ein Roman, der bereits in den 1960er Jahren von der Tageszeitung „Bintang Timor“ in Fortsetzungen gedruckt worden war. Im Juni 1988 schlug der Generalstaatsanwalt wieder zu: Sämtliche von Pram verfassten oder herausgegebenen Bücher wurden verboten; Besitz und Verkauf solcher Werke unter Strafe gestellt. Tatsächlich wurden Indonesier zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil sie Prams Bücher weitergegeben hatten.

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Die Buru-Romane sind die literarische Aufarbeitung der Endphase des Kolonialismus in Indonesien. Mehr als drei Jahrhunderte beherrschten die Holländer den Archipel. Pram thematisiert den Aufbruch in die nationale Unabhängigkeit und personifiziert das neue Selbstbewusstsein der gedemütigten Indonesier, die sich im Widerstand gegen die Europäer überhaupt erstmals als Indonesier begreifen lernten. In den ersten drei Bänden wird das Ringen um den nationalen Neubeginn aus der Sicht des Intellektuellen Minke beschrieben. Er bestellt geistig das Feld, auf dem die Befreiungsbewegungen entstehen. Übrigens: Es ist die
Zeit, da in Indonesien 48 Millionen Menschen lebten. Heute sind es mehr als 210 Millionen.
In den Buru-Büchern entwirft der Autor sein Gemälde der kolonialen Welt. An der Rechtlosigkeit der kleinen Leute, wie sie schon Jahrzehnte davor von Multatuli beklagt worden war, hatte sich kaum etwas geändert. Das wird enthüllend in einer Frauenfigur deutlich. Die lebenskluge, resolute Javanerin Ontosoroh – die „Nyai“, die Konkubine, des Holländers Hermann Melema, die ihrem zwangsweise verkuppelten Herrn menschlich so überlegene Frau – ist als Geschäftspartnerin akzeptiert, wird jedoch von der kolonialen weißen Gesellschaft als Einheimische nichtadliger Herkunft verachtet. Sie ist eine der zentralen Persönlichkeiten der Buru-Bücher: eine überzeugende Frauengestalt in der Weltliteratur. Darauf von mir angesprochen, merkte Pram an: „Ich meine, daß die indonesischen Frauen, vor allem die der Unterschicht, eine sehr wichtige Rolle spielen. (…) Mit der Figur von Nyai Ontosoroh wollte ich zeigen, daß, wenn sie die Gelegenheit hat, eine indonesische Frau sich entfalten kann und in produktiver Weise einen Beitrag für den Fortschritt der Gesamtheit leistet.“
Prams Romane sind von dem unerschütterlichen Glauben an die verändernde Kraft des Geistes durchdrungen. So ist es kein Zufall, daß Minke, der Intellektuelle aus adligem Hause, der Journalist, mehr noch als in „Bumi Manusia“ in den folgenden Büchern das Leid seines Volkes aufschreibt und das Wort als Waffe im Kampf für eine gerechte Gesellschaft benutzt; heute würden wir sagen: für eine zivile Gesellschaft. Nicht nur um eines dramaturgischen Effektes willen stellt Pram einen Indonesier in den Mittelpunkt seiner Tetralogie. Minke, der vor einem Jahrhundert erwachsen werdende Javaner, ist Ausdruck Prams persönlicher Erfahrung und authentischer Vermittler eigener tief verwurzelter Kultur, wie ihn nur ein Autor Indonesiens zu literarischem Leben erwecken kann. Es ist der schöpferische Geist im Erbe Jahrtausende alter Weisheit und zugleich Opfer gegenwärtiger Macht.
Den Hintergrund aufzuhellen, ist zum Verständnis gerade der Buru-Bücher erforderlich. Minke, Sproß der Oberschicht, privilegierter und dennoch wegen seiner einheimischen Herkunft als zweitklassig eingeschätzter Schüler eines holländischen Bildungsinstitutes, durchlebt und durchleidet als Betroffener, wie die javanische Elite die holländische Vormacht gewähren läßt, ja mehr noch: mit ihr im eigenen Interesse paktiert. Das keimende Bewusstsein von Ungerechtigkeit und Ausbeutung wird zur treibenden Kraft in der Entwicklung dieses Minke. Er verkörpert den beginnenden Unabhängigkeitskampf und spielt in den folgenden, chronologisch aufgebauten Buru-Büchern eine zunehmend wichtigere Rolle im Aufbegehren wider die Holländer.
Dazu von mir befragt, kam Pram ein wenig ins Dozieren: „Ich habe über ein neues Bewusstsein geschrieben, das wesentlich von Europa beeinflusst worden ist. Denn der Einfluß Europas ist außerordentlich gewesen, er verdrängte und ändere traditionelle Anschauungen, die der damaligen Lage nicht mehr entsprachen. Mein Werk ist vor allem als ein Appell an das indonesische Volk zu verstehen, wo die gegenwärtige Struktur, die heutigen Verhältnisse ihren Anfang haben. Diese Situation ist nicht von alleine so geworden, wie sie jetzt ist. Also, ich möchte, daß sich meine Leser der Geschichte bewusst werden.“
Der vierte Band „Rumah Kaca“ leuchtet das koloniale System und den einheimischen Häscher Pangemanann aus, der im Dienste der Holländer einen Mann wie Minke verfolgt und ihn letztendlich als Gegenspieler zur Strecke bringt. Im Spannungsfeld von skrupellosem Opportunismus und moralischen Prinzipien steht auch das „Haus aus Glas“. Es ist das Sinnbild des Überwachungsstaates, der jeden Untertanen am liebsten in einen solch transparenten Kasten sperren und den Einzelnen auf Schritt und Tritt und vor allem in seinen gedanklich-intimen Bereichen kontrollieren will.
Auch Jacques Pangemanann ist Indonesier, arbeitet aber auf Seiten der Holländer als Polizist und durchschaut als Geheimdienstprofi, hochgebildet, raffiniert, sowohl die Strömungen des nationalen Erwachens seiner Landsleute als auch die Machenschaften der Kolonialherren. Seine Sympathie, je Bewunderung gilt Minke, der das kommende Indonesien repräsentiert; doch seinen Sold erhält Pangemanann von den Holländern. An dieser Zerrissenheit geht schließlich der Agent zu Grunde. Er ist Täter und Opfer in einer Person; Verfolger und Verfolgter zugleich. Das menschliche Drama verbindet Pram mit den umwälzenden politischen Veränderungen der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg.
Das ist kein Polit-Thriller, der auf knallige Pointen setzt. In Prams Erzähltechnik begegnen sich die Tradition ausschweifender malaiischer Epen und die Romane der großen Russen mit dem langen Atem. Streckenweise liest sich das „Glashaus“ eher wie eine Dokumentation denn als eine spannende Geschichte. Pram kommt es auf historische Genauigkeit an. Der rote Faden, der alle Buru-Bücher durchzieht, bleibt als blutrote Spur sichtbar: das mörderische Ränkespiel um Macht und Menschen, in das individuelle Schicksale in der Unerbittlichkeit einer antiken Tragödie verstrickt sind. Das oft bemühte Schattenspiel als Erklärung indonesischer Manipulation wird von einem Insider meisterhaft als landestypische Spielart auf Leben und Tod beschrieben. Natürlich nimmt dies der Leser mit dem Wissen von heute wahr und zieht zwangsläufig aktuelle, weltpolitische Parallelen. Genau diese letztlich über Indonesien und die konkret-historischen Machtkämpfe von damals hinausreichende Zeitlosigkeit macht Prams Bücher zur Weltliteratur.

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Die Spannung zwischen Anspruch und Realität ist Prams ureigenstes Thema geblieben. Erklärtermaßen sieht er sich in der geistigen Nachfolge eines Multatuli. In seinen eigenen Romanen zitiert Pram an verschiedenen Stellen aus dem „Max Havelaar“ und macht klar, daß ein Mann wie Minke selbstverständlich Multatuli gelesen und ihm das Bewusstsein geschärft hat, an einer Zeitenwende angelangt zu sein. Folgenreich! „Die Werke Multatulis, insbesondere ‚Max Havelaar’, haben den indonesischen Intellektuellen Mut gemacht, den Kolonialisten entgegenzutreten, vor allem den korrupten Kolonialisten. Die Bedeutung des ‚Max Havelaar’ in der Geschichte der indonesischen Entwicklung kann man nicht hoch genug einschätzen“, sagte mir Pram, als ich ihn nach seinem eigenen Verhältnis zu Multatuli befragte, und er fügte zögernd und bedauernd hinzu: „Nur hat bisher Multatuli bei uns noch keine offizielle Anerkennung erfahren.“
Pram trug in den frühen 1960er Jahren dazu bei, daß Multatuli in Indonesien wiederentdeckt wurde. Anläßlich des 75. Todestages von Eduard Douwes Dekker schrieb Pram eine Reihe von Artikeln über den niederländischen Autor, sein Werk und seine Wirkung. Die Serie ist in elf Folgen erschienen. Dankenswerterweise hat Bernhard Dahm, Sukarno-Biograf, Historiker und langjähriger Professor für Südostasienkunde an der Universität Passau, diese bereits verschollen geglaubten Artikel ausfindig gemacht, darüber publiziert und auch vor der Multatuli-Gesellschaft berichtet. So ist uns eine Quelle erschlossen, die viel über Pram und Multatulis Einfluß in der postkolonialen Zeit vermittelt. Als Motto stand über der Artikelserie ein Zitat aus Multatulis „Minnebrieven“: „Die Aufgabe des Menschen ist es, menschlich zu sein (ein wahrer Mensch zu werden)“. Pram wies darauf hin, Multatuli habe erreicht, daß die Kolonialpolitik wenigstens im Bereich der Bildungspolitik geändert worden sei und einige der Erkenntnisse aus dem fernen, modernen Europa auch in Indonesien zur Kenntnis genommen werden konnten. Das Auftreten des literarischen Minke ist ganz aus diesem Sinne heraus zu verstehen. Multatuli, so damals Pram in seiner Würdigung, sei ein großer Dichter, weil für ihn die Menschlichkeit den Vorrang hatte. Die Erzählung von Saidjah und Adinda, das traurige Epos von Liebe, Leid und Verfolgung, wird ausdrücklich als Beleg dafür genannt. Doch Pram beließ es nicht bei einer rückschauenden Betrachtung des literarischen Impetus der Multatuli-Bücher, er benutzte deren Autor gewissermaßen als zeitgenössischen Kronzeugen, um mit dem Verweis auf ihn und dessen Einmischung in ungerechte Machtstrukturen hundert Jahre zuvor auf die Verhältnisse der indonesischen Gegenwart der 1960er Jahre einzuwirken. Pram forderte die indonesischen Politiker auf, sich mit Multatuli zu beschäftigen und spitzte dies sarkastisch zu: wenn sie die eigene Geschichte nicht kennen, seien sie keine Politiker, sondern nur ein aufgescheuchter Mäusehaufen. Die Droogstoppels zu Multatulis Zeiten seien verschwunden, so Pram, aber nun werden die nicht-sozialistischen Länder von Cliquen neuer Droogstoppels regiert, deren Macht- und Monopolstellung bewaffnete Streitkräfte stützen.
Prams Kritik traf im Besonderen die Militärs. Das Volk, das die Armee einst während des Unabhängigkeitskampfes ins Leben gerufen habe, werde nun von eben diesen Streitkräften ausgebeutet und müsse auch noch die Kosten tragen: von den Sohlen der Stiefel bis zu den Haarspitzen und von den Bajonetten der Gewehre bis zu den Knöpfen der Uniformen. Kommentierende Anmerkung von Bernhard Dahm: „Solche Sätze – geschrieben 1962 – haben die indonesischen Militärs dem in diesen Jahren von der Einführung des Sozialismus träumenden Pramoedya Ananta Toer nicht vergessen, und eine Folge davon war, daß sie später seine Bücher und Schriften wegen des Verdachts auf Verbreitung sozialistischer Vorstellungen sogleich auf den Index setzten. ‚Max Havelaar’ wurde von Toer in der Tat selbst als sozialistische Lektüre angesehen.“
In den Buru-Romanen ist an zahlreichen Stellen der Bezug zu Multatuli zu finden. Der junge Minke, der sozialkritische Berichte für Zeitungen schreibt, tut dies unter dem beziehungsvollen Pseudonym „Max Tollenaar“, nämlich: „Multatulis geistiges Kind“. Bei einer Bahnfahrt durch Java schaut er aus dem Fenster und sieht die Armut der Landleute, die er als seine Landsleute betrachtet: „Das Elend dieser Bauern war mir auch aus Multatulis Saidjah und Adinda bekannt…“ Und in „Bumi Manusia“ heißt es: „Wenn man über die sozialen Hintergründe sprechen will, dann ist Multatuli typischstes Beispiel.“

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Pram hat die historischen Zäsuren Indonesien durchlitten, in Literatur übertragen und somit späteren Generationen als Lehrstück erhalten: den Eingriff der Europäer in die Welt Südostasiens, den nationalen Aufbruch, den Kampf für die Idee der Freiheit und den Verrat und Ausverkauf der Ideale. Pramoedyas Oeuvre dominiert mit Umfang und Gewicht das indonesische Geistesleben des 20. Jahrhunderts und ist zur Herausforderung für das 21. Jahrhundert geworden. Seine breit angelegten Romane haben klassisches Format. Es gibt keinen anderen indonesischen Autor, der mit solcher Vielfalt die entscheidenden historischen Epochen Südostasiens in Literatur umgesetzt hat wie Pram. Sein Blick reicht weit in die Geschichte zurück. In seinem umfangreichsten Erzählwerk greift er das folgenreiche Eindringen der Europäer in indonesische Geschicke zum Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts auf. „Arus Balik“, so der indonesische Titel, ist 1995 erschienen – just zum 50. Jahrestag der Proklamation der Republik Indonesia am 17. August 1945. Bei diesem Rückblick wie bei den Buru-Romanen stellt Pram der europäischen Sicht der Geschichte die Sicht aus indonesischer Perspektive entgegen. Es ist der gewaltvolle Kampf von Tätern und Opfern: auf beiden Seiten.
Pram gestaltet sein Werk als Auseinandersetzung mit der Macht und den Mächtigen an der Nahtstelle zur neuen Zeit. Dabei begegnet der Leser Menschen, die ihn nicht nur ihrer glaubhaften Gesichter wegen beeindrucken, sondern in ihren Ängsten und Äußerungen seltsam vertraut erscheinen. Minke macht dies besonders deutlich. Javaner durch und durch und doch der Typ des zweifelnden Menschen, der in seinen Grundzügen „modern“ ist: seiner kulturellen Wurzeln unsicher geworden, anfangs überschwänglich angetan von der Ersatzreligion des technischen Fortschritts, der Rationalität, der westlichen Liberalität, doch enttäuscht schließlich und voller Skepsis, weil Maschinen verdammt wenig zur Verbesserung der Moral beitragen. Im Gegenteil! Minke ist der Mensch des 20. Jahrhunderts. Ein Weltkind. Ein Kind aller Völker.
Die Romane lassen sich auf zweierlei Weise lesen: zum einen als spannende Geschichte mit Schicksalen, Liebe, Leidenschaft in der Auseinandersetzung um menschliche Werte, die über die historische Besonderheit und lokalen Bezüge hinaus Gültigkeit haben. Zum anderen als präzise Geschichtsbücher, die eben dieses Ringen in Indonesien mit Daten, politischen Verwicklungen und historisch fassbaren Figuren belegen. Das ist Unterhaltung im besten Sinne; und es ist informativer Hintergrund zum besseren Verständnis indonesischer Verhältnisse. Die Parallelen zum Jetzt sind geradezu verblüffend. Im Roman um Minke, den Studenten, den Journalisten, den Parteiengründer, soll das Joch der Kolonialherren abgeschüttelt werden. In der unmittelbaren Gegenwart geht es um den politischen Neubeginn, um Reformen nach drei Jahrzehnten der Suharto-Diktatur und das Wagnis erster demokratischer Schritte auf dem langen steinigen Weg hin zur tatsächlichen Beteiligung des Volkes an der Macht. Damals wie heute ist es eine verzweifelte Suche nach praktikablen Organisationsformen, nach integren Führern, nach Gemeinsamkeit über die konkurrierenden Interessen hinaus. Damals wie heute ist es ein Verwirrspiel mit Intrigen, Verleumdung, Mord. Wie sich die Bilder gleichen!
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Lange Zeit haben wir im Westen mit Pram vor allem das Opfer der indonesischen Willkür des Generalspräsidenten Suharto zur Kenntnis genommen und die politischen Verhältnisse im Reich der 17.000 Inseln vehement kritisiert. Nun, Jahrzehnte später, nach all den Wirren und menschlichen Katastrophen, in denen mehr der politisch verfolgte Autor beachtet wurde als seine Romane, gilt es, sich vorrangig seines literarischen Werkes zu widmen. Damit und darin wird der gesundheitlich angeschlagene Pramoedya Ananta Toer überleben. Wenn es eines weiteren Beweises bedürfte, die Überlegenheit der Feder über die Willfährigkeit des Schwertes zu belegen, dann sind es seine Bücher. Suhartos Schergen wollten den Geist töten, indem sie Menschen vernichteten und einen Mann wie Pram mundtot machen wollten; doch eben diese Botschaft des geistigen Bestandes ist und bleibt stärker als die uniformierte und staatliche Anmaßung bornierter Exekution der Macht.
Heute kann sich Pram wieder frei bewegen. Seine Bücher erreichen in Indonesien hohe Auflagen und werden vor allem von der Jugend wie ein Vermächtnis aufgenommen. Die meisten seiner Titel liegen in Übersetzungen vor, auch in deutscher Sprache. Es ist eine späte Genugtuung für den verfemten Dichter und eine überzeugende Würdigung zum 80. Geburtstag.

Deutsche Auswahlbibliografie:

Pramoedya Ananta Toer: „Garten der Menschheit“, Roman aus dem Indonesischen von Brigitte Schneebeli, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 380 Seiten, 1987.

Ders.: „Kind aller Völker“, Roman aus dem Indonesischen von Brigitte Schneebeli, Unionsverlag, Zürich, 426 Seiten, 1994.

Ders.: „Spur der Schritte“, Roman aus dem Indonesischen von Giok Hiang Gornik, Unionsverlag, Zürich, 507 Seiten, 2002.

Ders.: „Haus aus Glas“, Roman aus dem Indonesischen von Giok Hiang Gornik, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein, 429 Seiten, 2003.

Ders.: „Spiel mit dem Leben“, Roman aus dem Indonesischen von Doris Jedamski und Thomas Rieger, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, 204 Seiten, 1990.

Ders.: „Die Braut des Bendoro“, Roman aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein, 325 Seiten, 1995.

Ders.: „Die Familie der Partisanen“, Roman aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein, 319 Seiten, 1997.

Ders.: „Stilles Lied eines Stummen. Aufzeichnungen aus Buru“, aus dem Indonesischen von Diethelm Hofstra, Horlemann Verlag, Unkel/Rhein, 343 Seiten, 2000.

Zur Rezeption des Autors:

Rüdiger Siebert: 5mal Indonesien. Annäherung an einen Archipel, Piper-Verlag, München, 1989.
Ders.: Indonesien. Inselreich in Turbulenzen, Horlemann-Verlag, Unkel/Rhein, 1998.