von Rüdiger Siebert

Osttimor tut sich schwer mit seiner Selbstbestimmung

Andrea Fleschenberg formuliert Unbehagen: „Viele von uns, die Osttimor 1999 mit in die Unabhängigkeit begleiteten und zur Zeit der indonesischen Besatzung die Unabhängigkeitsbewegung unterstützten, meinen sich heute einem Scherbenhaufen gegenüberzustehen angesichts des Führungsverhaltens der osttimoresischen Regierung sowie der Gewalt und Anarchie, aus welchen Gründen und in welcher Form sie auch orchestriert sein mag.“ So in der Einleitung  des von ihr herausgegebenen Heftes „Osttimor – Vier Jahre Unabhängigkeit“ in Focus Asien, der Schriftenreihe des Asienhauses Essen, nachzulesen. Dr. Andrea Fleschenberg gehört zu jenen Enttäuschten, die die jüngste politische Entwicklung im zweitjüngsten Staat der Erde mit Sorge verfolgen. Als Vorsitzende der Deutschen Osttimor Gesellschaft hat sie allen Grund dazu.
Der im Februar 2005 in Köln veranstaltete zweite Osttimor-Kooperationsworkshop war noch vom vorsichtigen Optimismus getragen, das Nation-Building im über Jahrhunderte fremdbestimmten und bevormundeten Osttimor könne in absehbarer Zeit gelingen, der Neuanfang in Selbstregie das Leben der Osttimoresen spürbar verbessern, das Wiederauferstehen aus Unterdrückung, Leid und Verfolgung die nationale Aussöhnung ermöglichen. Die nun in der Focus-Asien-Reihe gedruckt vorliegenden Beiträge der Workshop-Teilnehmer vom vorigen Jahr sind durchwegs von dieser Aufbruchsstimmung geprägt. Verfrühte Hoffnungen? Wunschdenken? Sicher verständlich, aber jetzt wird die Bewertung durch die aktuellen Ereignisse der sich gewaltvoll entladenden Spannungen relativiert und überschattet. Blutige Ausschreitungen in Dili und anderen Orten in den ersten Monaten 2006, anarchistische Zustände, Massenflucht, Machtkämpfe innerhalb der Regierung, schließlich Rücktritt des Premier Alkatiri. Osttimor steckt mitten in einer Zerreißprobe, deren Ende noch gar nicht abzusehen ist.
Während der Jahre des Widerstandes gegen Indonesiens Vormacht und Willkür war das Feindbild klar und überdeckte interne Differenzen der osttimoresischen Gesellschaft und ihrer Repräsentanten. Seit der Unabhängigkeit brechen alte Rivalitäten wieder auf, verschärft durch wirtschaftliche Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit, mangelnde Erfahrung beim Regieren und Verwalten. Um es salopp zu sagen: Das Gegenteil wäre ein Wunder gewesen.
Der junge Staat befindet sich in der tiefsten Krise seiner vierjährigen Existenz. Deshalb war es richtig und hilfreich, diese tragische Entwicklung durch den die jüngsten Ereignisse aufgreifenden neuen Beitrag von Andre Borgerhoff zu ergänzen. Seine Zwischenbilanz im Juni 2006: „Der durch die Krise eingetretene Schaden ist … umfassend. Die Osttimoresen haben das Vertrauen in die Schutzfunktion des Staates verloren. International hat das Vorzeigeprojekt für Nation-Building einen herben Rückschlag erlitten.“
Um die gegenwärtigen Probleme zu verstehen und zu begreifen, warum deren Lösung viel mehr Zeit beansprucht, als die meisten Beobachter nach dem Abzug der indonesischen Besatzungsmacht erhofften, bedarf es der Kenntnis historischer, sozialer, kultureller, wirtschaftspolitischer Zusammenhänge. Diesen Hintergrund vermittelt die von Andrea Fleschenberg editierte Materialsammlung mit Beiträgen von knapp zwei Dutzend Autorinnen und Autoren – trotz oben genannter Einschränkung – mit hohem Informationsgehalt weit über die aktuellen Ereignisse hinaus. Kenner der Region tragen zu einem differenzierten und vielgestaltigen Bild der östlichen Inselhäfte Timors bei. Die wichtigsten Aspekte werden dargelegt: Geografie, Staatsbildung, Vergangenheitsaufarbeitung, Soziale Sicherung, Medien, Wirtschaft und Entwicklungszusammenarbeit, Frauen, Solidarität. Eine umfangreiche Bibliographie gibt Hinweise zur Vertiefung und Fortsetzung und den Tipp, die Bibliothek des Asienshauses in Essen zu nutzen. Wer sich weiterhin mit Osttimor und dem schwierigen Werden einer Nation beschäftigt, findet in der Broschüre einen aufschlußreichen Wegweiser.
Wie mühselig es ist, an Zahlen und Statistiken zu kommen, vermutlich, weil sie zumeist sowieso ungenau und fragwürdig sind und gar nicht nachgeprüft werden können, belegt das Heft ungewollt aber unübersehbar: Innerhalb der Artikel gehen die Angaben zu verschiedenen Sachgebieten teilweise heftig auseinander. Der Leser hat die Wahl:Leben gegenwärtig etwa 850.000 Menschen in Osttimor, wie auf der Landkarte vermerkt, oder exakt 1.062.777, wie auf Seite 13 zu lesen ist? Beträgt die Alphabetisierungsrate 58,6 Prozent (Seite 13) oder rund 50 Prozent (Seite 52)? Liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 66 Jahren (Seite 39) oder bei 55,2 (Seite 44)? Das kann nur heißen: Osttimor läßt noch viele Fragen offen.
Andrea Fleschenberg ist zuzustimmen, wie auch aus dem Westen auf die gegenwärtigen Verwerfungen zu reagieren sei: „…Osttimor in diesem Moment der sozialpolitischen Krise nicht allein zu lassen, sondern die demokratische und wirtschaftliche Entwicklung weiterhin zu unterstützen, nachhaltig und forciert.“

Andrea Fleschenberg (Hg.): „Osttimor – Vier Jahre Unabhängigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Entwicklungen“ Focus Asien Nr. 27; Schriftenreihe des Asienhauses Essen, Juni 2006, 70 Seiten, € 5,00