von Rüdiger Siebert

Er erzählt, als sei es erst gestern gewesen. Die Sätze wirken druckreif, ausgefeilt; spontan spricht er und ohne langes Besinnen: „Ich erinnnere mich, als wir von Colombo kommend in den ersten niederländisch-indischen Hafen einliefen. Es war ein kleiner Hafen an der Südküste Javas, Cilacap mit Namen, der genau genommen ein echtes tropisches Dorf war zwischen Palmen und Mangroven und kleinen Hütten aus Palmblatt und abends mit den Feuern vor den Türen. Die ganze übliche Atmosphäre dazu: mit den Gerüchen auch, nicht nur mit den Farben, Geräuschen und was das Auge sah. Auch die Gerüche von den Märkten, die fliegenden Küchen, aus den Häusern heraus, aus den sumpfigen Küsten heraus. Und das nahm mich irgendwie ganz anders gefangen.“

Nein, nicht gestern – Anfang der 1920er Jahre ist das gewesen. Ein junger deutscher Student aus Hamburg erlebt zum ersten Mal den Zauber von Java. Karl Helbig heißt er. Der Mann ist fasziniert: „Damals stand bei mir schon fest: dieses Land, irgendwie mußt du noch mal hierherkommen.“ Das sagte er rückblickend zu jener Landung in Cilacap, sechs Jahrzehnte später. Es war bei einem meiner Besuche in Hamburg; und dies sei gleich angefügt: Das folgende skizzenhafte Porträt ist von der sehr persönlichen Beziehung geprägt, von einer über zwei Jahrzehnte gewachsene Freundschaft, die mich unermeßlich bereichert hat. Viele der hier wiedergegebenen Zitate stammen aus Gesprächen, die ich in den 1980er und 90er Jahren mit Karl Helbig führen konnte, über lange Passagen mit dem Tonband festgehalten.

„Wollen Sie mal sehen , wie ein alter Schiffsheizer lebt? Kommen Sie!“ Im verschmitzten dünnlippigen Lächeln, das dieser Aufforderung folgte, mischten sich Selbstironie und lebenslanger Stolz auf eben diesen Beruf. Ich stieg hinter Karl Helbig auf den Dachboden des bürgerlichen Hauses an der Bleickenallee in Hamburg-Altona. Hier wohnte er seit Jahrzehnten: es war sein Heimathafen. Von der nahen Elbe tönten die Schiffssirenen herüber. Die stets neue Lockung in die Ferne. Doch in diese Wohnung war Karl Helbig immer wieder zurückgekehrt. Knarrende Dielen. Dämmriges Licht. Penible Sauberkeit. Da lagen in feinster Ordnung die gespitzten Holzspäne, die in Zeitungspapier gewickelten Scheite, die aufgeschichteten Briketts; zur Parade ausgerichtet wie für eine Inspektion, so sorgfältig wie praktisch in die Reihenfolge der weiteren Verwendung da unten im Kachelofen der Wohnstube im dritten Stock gebracht. Das Lächeln im feinsinnigen Greisengesicht leuchtete wieder auf. Da staunen Sie, was? So war es unausgesprochen in dieser Miene zu lesen. Ich staunte tatsächlich. Auch über die Hände, die dann in die Holz- und Kohlevorräte griffen. Arbeiterhände, kräftig ausgebildet, zupackend auch noch im hohen Alter, wenngleich die Knöchel bereits verdickt, die Finger der einstigen Gelenkigkeit verlustig waren.

Das kluge Gesicht mit dem prüfenden Blick, hellwach und voller Neugier trotz geminderter Sehschärfe: der Gelehrte, der Mann des Wortes, der Wissenschaften. Und diese Hände, erkennbar Handwerkszeuge: der Arbeiter, der Kumpel, der Seemann. In diesen Minuten auf dem Dachboden fühlte ich mich Karl Helbig sehr nahegekommen. Der Gang nach oben war ein Freundschaftsbeweis über den Generationengraben hinweg. Vor diesem Brennstoffstapel spürte ich die Persönlichkeit und die Originalität des Mannes besonders intensiv, der als Berufsbezeichnung in unauflöslicher Zwillingsverbundenheit stets Heizer und Geograph nannte. Bei dieser Begegnung im Frühjahr 1982 war Karl Helbig, am 18. März 1903 in Hildesheim geboren, gerade 79 Jahre alt geworden.

Fünf Jahre waren seit unserem ersten Treffen vergangen. Dazwischen wuchs die Korrespondenz an, die eher zufällig begonnen hatte. In meinem ersten Buch über Indonesien hatte ich aus Helbigs Reisewerk von 1940 zitiert: „Urwaldwildnis Borneo“, und ich zitierte In der Gewißheit, dass ein Forscher der 1930er Jahre wohl nicht mehr ansprechbar sei: „Borneo-Langläufer Karl Helbig würde Tering nicht wiedererkennen. Während der 30er Jahre war er west-östlich durch die Insel marschiert: durch die ‚Urwaldwildnis Borneo‘, wie der wackre Wanderer später sein Buch nannte. Darin beschreibt er auch das Dorf Tering, ‚wo sich unter Kokospalmen die viele hundert Meter lange Front des Langhauses der Bahau-Dayak’ verliert. 40 Jahre danach stehen nur noch einige Pfosten. Die Stützen der Vergangenheit sind morsch geworden, die einstigen Dimensionen gerade noch erkennbar. Freilich, ‚viele hundert Meter‘ wird das Landhaus auch zu Helbigs Zeiten nicht gehabt haben, zweihundert scheinen dem Nachfahr angesichts der heutigen Reste als angemessen.“

Freunde, die mich auf den Autor und meinen Irrtum ansprachen, was dessen Lebenszeit betraf, verhalfen mir zur Hamburger Adresse. Spontan und freundlich war die Reaktion des alten Herrn, der sich offenbar über den Nachwuchs freute, der ebenfalls reisend und schreibend die Welt Südostasiens zu entdecken begann. „Der Drang, du mußt mehr sehen von der Welt“, wie Karl Helbig die ein Leben währende Antriebsfeder seines Tuns benannte, war bei mir gleichermaßen auszumachen; doch Welten lagen zwischen den Umständen des jeweiligen Aufbruchs. Bei späteren Besuchen in der Bleickenallee erzählte Karl Helbig davon. Er berichtete spannend, präzise mit der Lust am Detail und voll menschlicher Wärme, wenn von den einfachen Leuten die Rede war; ganz so, wie Helbig seine zwei Dutzend Bücher geschrieben hat: die wissenschaftlichen Werke über Indonesien und einige Länder Mittelamerikas, seine Reisereportagen und seine populärwissenschaftlichen Aufsätze. Und nicht zu vergessen: seine Romane und Erzählungen für junge Leser. Die reichen Erfahrungen seiner Exkursionen und Begegnungen in Indonesien flossen in eine Reihe von Geschichten ein, die spannende und informative Lektüre zugleich sind. Der jungen Generation der 1940er und 50er Jahre hat Helbig somit das Bild von der Welt erweitert und besonders das der indonesischen Welt farbig und menschlich nahegebracht. Welche Vielfalt! Da paßt kein Klischee.

„Den bedingungslosen Gelehrten mußte ich ebenso enttäuschen wie den eingefleischten Abenteuer-Literaten.“ So zog Karl Helbig selbst die Grenze seines Schaffens und erklärte: „Ich gehöre einer Generation an, die eine sehr abwechslungsreiche und sehr interessante aber nicht immer ganz leichte Zeit durchstehen mußte. Ich bin teilweise nicht in einer Stadt, sondern auf dem Lande großgeworden, habe schon sehr früh Interesse für größere Räume und für die weitere Welt gespürt – obwohl ich im Schulunterricht, in der Geographie, sehr schlecht war; diese Art von Geographie hat mir nicht gefallen, aber der Drang ist immer geblieben, du mußt mehr von der Welt sehen.“

Der frühe Verlust seiner Eltern zwang den 20jährigen in wirtschaftlich wie politisch turbulenter Zeit, den eigenen Energien und Ideen zu vertrauen. Erster Weltkrieg. Weltwirtschaftskrise. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs. Der Kampf zwischen restaurativen Kräften und den Verfechtern einer liberalen Politik. Die ersten Versuche in Deutschland, demokratische Strukturen aufzubauen. All dies prägte den jungen Helbig und schärfte seine lebenslange Kritik an Unrecht und Unterdrückung. 1921 legte er in seiner Heimatstadt die Reifeprüfung ab. Das landwirtschaftliche Studium in Göttingen (1922/23) mußte abgebrochen werden. Helbig jobbte unter Tage im Kalibergbau, wurde Ziegeleiarbeiter und nahm dankbar die knochenschindende Arbeit des Kohletrimmers auf einem Dampfer an, der nach Indien auslief. Schon bei der ersten Reise nach Bombay, Kalkutta, Karatschi wurde aus dem Gehilfen des Heizers dank seiner körperlichen Robustheit und seiner Erfahrung mit mörderischer Hitze selbst ein Heizer. Der Beruf und die Tropen sollten sein Schicksal bestimmen. Diese Beschäftigung ermöglichte es ihm fortan, die großen Reisen von Deutschland nach Indonesien zu bewerkstelligen. Mit der Überfahrt als Heizer hatte er die Passage kostenlos und finanzierte mit der Heuer seine weiteren Exkursionen in Indonesien. Nicht zu seinem Privatvergnügen wollte er dorthin, auch nicht der Abenteuer wegen, sondern um wissenschaftlich zu arbeiten.

Die zweite Fahrt in der untersten Etage eines Dampfschiffes, wiederum als Seemann vor den Feuern, führte ins damalige Niederländisch-Ostindien: „Eine völlig neue Welt, mittenhinein in die äquartorialen Tropen. Das nahm mich gefangen.“ So erinnerte er sich; und noch der Greis, der mir von dieser jugendlichen Begeisterung und Herausforderung erzählte, geriet bei solchem Rückblick ein wenig ins Schwärmen. Karl Helbig kam wieder nach Batavia, das heutige Jakarta; und stets fuhr er als Heizer. Doch als Karl Helbig 1929 im Überseehafen Tanjung Priok abmusterte, die Arbeitsklamotten und das Schweißtuch des Heizers einrollte, da betrat er als junger Student den javanischen Boden. In Hamburg hatte er sich in der Zwischenzeit zum Studium der Geographie, Geologie und Völkerkunde eingeschrieben. Er hatte mit dem Erlernen der malaiischen Sprache begonnen, eignete sich Holländisch an und wagte sich auf wissenschaftliches Neuland vor.

Ein deutscher Kaufmann und Wirtschaftspionier im damaligen Niederländisch-Ostindien half ihm dabei auch finanziell mit einer Zuwendung, was von Karl Helbig ausdrücklich erwähnt und gewürdigt wird: „…vor allem durch die freundliche Unterstützung eines deutschen Pflanzungssyndikats und dessen Direktors, Herrn Emil Helfferich, kam eine Reise nach Batavia zur Ausführung, wo während des Sommers 1929 die örtlichen Verhältnisse in Augenschein genommen, sowie nach geschriebenem und mündlichem Material Umschau gehalten werden konnte.“

In jenen Monaten sammelte er das Material für seine Disseration zum Thema „Batavia – eine tropische Stadtlandschaftskunde im Rahmen der Insel Java“. Es war die erste derartige Bestandsaufnahme jener Stadt, die die holländischen Kolonialherren zum Zentrum ihrer Macht ausgebaut hatten. Aus heutiger Sicht ist es nachdenkenswert, wie Helbig die Kontraste der Kulturen in Batavia als Kind seiner Zeit bewertete; im Schlußkapitel heißt es:

„Immerhin sind die schädigenden Einflüsse groß, gehen aber weniger von der Stadtlandschaft als von der tropischen Natur des Landes aus. Sie macht schlaff, setzt die körperliche und geistige Regsamkeit herab, lähmt die Willenskraft, macht gleichgültig und interessenlos. Deshalb darf man in den feuchten immer heißen Tropen vom Nordländer nicht das Maß von Willenskraft wie in unseren Breiten erwarten. Während aber der kolonisierende Nordländer in den Tropen herabsteigt, wird der Eingeborene mit der Übernahme der fremden Kultur gehoben. Es kann kaum bestritten werden, daß trotz aller Tradition, trotz mancher andersgearteter Geistesrichtung doch eine ‚Emanzipation‘ am Werke ist, die viele Unterschiede allmählich verwischen wird. Das ist in weltwirtschaftlicher Hinsicht gut, denn eine Angleichung an Fremdkulturen ist, um mit Thomas Karsten zu sprechen, notwendig, ‚um den Kontakt mit der übrigen Welt nicht zu verlieren.‘ Das Idealste wäre es, wenn alles, was sie Schlechtes bringen, durch Edles der Tradition ersetzt und die hohe indonesische Kultur sich mit Übernahme von Äußerlichkeiten und Formen begnügen würde, ohne daß ihre feine Innerlichkeit daran zugrunde ginge.“

Am 28. Juni 1930 verlieh ihm die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Universität Hamburg den Grad eines Dr. rer. nat. Das Promotionsverfahren schloß er mit Auszeichnung ab. An der schweißtreibenden Art der weiteren Überfahrten änderte sich nichts. Karl Helbig wurde der erste und vermutlich einzige Vollakademiker unter den Heizern der deutschen Handelsmarine. 1940 legte er der Philosophischen Fakultät der Universität Marburg seine Habilitationsschrift vor; sie trug den Titel: „Die Insel Bangka. Beispiel eines Landschafts- und Bedeutungswandels auf Grund einer geographischen Zufallsform.“ Nach seinem Habilitationsvortrag in Marburg zum Thema „Menschen im Urwald, Bericht über eine Reise zu den Dayaks auf Borneo“ waren die akademischen Lorbeeren, die er bei jeder neuen Passage als Heizer mit in die Tiefen der Dampfer nahm, noch etwas üppiger geworden.

Wie reagierten denn die anderen Heizer und Trimmer und die Kameraden unter Deck? Er wehrte meine Frage ab: „Sie wußten ja zumeist gar nichts von meinem zweiten Beruf“, sagte Helbig in aller Bescheidenheit, „ich fühlte mich mit ihnen verbunden, war ja selbst lange Zeit nur ein Arbeiter wie sie gewesen und verrichtete dieselbe Arbeit. Da gab’s nie Probleme.“ Das war genau die beziehungsvolle Antwort eines Mannes, der vertrauensvollen Umgang mit Menschen jeglichen Standes und jeglicher Hautfarbe pflegte, stets aber seine ganz persönliche Freiheit und Unabhängigkeit bewahrte: politisch wie privat.

Karl Helbig war in der Blüte seiner Jahre ein hochgewachsener, gutaussehender Mann; sich seiner Wirkung auf Frauen wohl bewußt. Bis ins hohe Alter konnte er ausgesprochen charmant und liebenswürdig sein, im Umgang mit Frauen sogar galant. Hat er nie ans Heiraten gedacht? Er wich aus bei der Frage, erwähnte die für seinen Beruf so unverzichtbare Unabhängigkeit. Dass er nahe dran gewesen war, sie aufzugeben oder einzuschränken, erfuhr ich nicht von ihm – da schwieg er sich aus -, sondern von Liselotte Siebrecht, Jahrgang 1906, gelernte Buchhändlerin, Fotografin und Autorin in Hildesheim. Mit ihr war Karl Helbig verlobt. Die entsprechende Anzeige erschien am 14. Mai 1932 in der Hildesheimer Zeitung. Doch die Bindung hielt nicht lange. Ein Jahr danach trennte sich das Paar. Helbigs Drang in die Welt muß stärker gewesen sein als seine Liebe zu einer Frau.

Karl Helbig kam nach Indonesien als sich der geistige Widerstand gegen das Kolonialsystem regte und formierte. Unter der jungen Intelligenz, die die Bildungseinrichtungen der Holländer durchlaufen konnte, erhielt ein Begriff immer mehr an Attraktion und visionärer Aussage: „Indonesien – Indonesia“. Er wurde zur Kampfansage an die Kolonialregierung, die bis in die 1940er Jahre hinein hartnäckig darauf bestand, den Begriff zu tilgen und in keinem Dokument akzeptieren zu wollen. Indonesische Studenten in den Niederlanden, besonders eng verbunden mit dem europäischen Geist und einbezogen in eine höchst lebendige Diskussion, die nach dem Zusammenbruch so vieler abendländischer Werte während des Ersten Weltkrieges die eigenen, asiatischen Werte neu zu bestimmen versuchten, waren die ersten, die „Indonesien“ im nationalen Sinne gebrauchten. Den Studenten, die aus allen Teilen des Archipels gekommen waren, bedeutete die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe nicht mehr soviel wie der Vätergenerationen. Schon 1917 hatte sich in Leiden der „Indonesisch Verbond van Studeerenden“ gebildet; 1922 schlossen sich Studenten in Den Haag zur „Perhimpunan Indonesia“, zur indonesischen Vereinigung, zusammen, deren Mitglieder sich als Nationalisten betrachteten und die Nicht-Kooperation gegenüber der holländischen Regierung zum Prinzip erklärten. Als die „Internationale Liga gegen koloniale Unterdrückung“ im Februar 1922 in Brüssel tagte, erhielten der in Holland studierende Mohammad Hatta und der aus Indonesien angereiste Semaun demonstrativ Plätze im Präsidium.

Dieser eigenständige Geist nationaler Gesinnung hatte in der jungen Generation ein deutliches Echo. Im Oktober 1928 fand in Batavia, dem späteren Jakarta, ein Jugendkongreß statt, der ein historisches Zeichen setzte: Die Delegierten sprachen sich für ein Vaterland und eine Nation aus, nämlich Indonesien, und sie verlangten eine nationale Sprache, die „Bahasa Indonesia“, als Ausdruck der Einigung. Die Forderung ist als Schwur der Jugend, „Sumpah Pemuda“, ein Vermächtnis geworden, das sich erfüllt hat und dennoch gegenwärtig an der Schwelle zum 21. Jahrhundert in der Spannung indonesischer Neuorientierung wieder infrage gestellt wird. Männer wie Sukarno und der im August 1932 nach elf Studienjahren aus Holland heimkehrende Hatta waren die Promotoren, die den Schwur zum Kredo ihrer Politik machten. Mit ihnen setzte sich ein neuer Typ des volkstümlichen Führers in der indonesischen Gesellschaft durch, der seine Autorität nicht mehr aus Geburt, Abstammung und Zugehörigkeit zu einem „Kraton“ ableiten konnte oder den Appell an die alle verbindende Religion in den Mittelpunkt stellte, sondern das verkörperte, was man Zeitgeist nennt. Sukarno, der spätere Gründungspräsident der Republik Indonesia, und die Männer seines Schlages agierten auf dem gleichen intellektuellen Niveau wie ihre holländischen Gegenspieler (manchmal sogar darüber) und machten weit verbreitete Stimmungen, Gefühle, Aversionen und Frustrationen zum politischen Programm, das eben diesen Holländern das Fürchten lehrte.

Die Zeitströmungen hat ein Mann wie Karl Helbig, der sich den ausgebeuteten, benachteiligten Menschen stets nahefühlte, mit wachem Geist verfolgt und darüber in seinen landeskundlichen Arbeiten berichtet. Er erzählte mir von seinem ersten Eindruck, den er 1927 beim Betreten der Hamburger Universtiät hatte. Über den drei Portalen des alten Gebäudes las er: „Der Forschung. Der Lehre. Der Bildung.“ Mit dem ersten und dem zweiten Postulat sah er sich in bewährter Tradition. Aber Bildung? Bildung für wen? „Das war mir von Anfang an klar gewesen, nachdem ich mit allen möglichen Menschen, mit Kollegen, Makkern und Kameraden gelebt hatte: die müssen doch auch alles wissen. Die Bildung ins Volk hineintragen, ist mir immer die wichtigste Richtschnur gewesen.“ Er sagte das ohne Eigenlob. Ein Mann, der nie den Kontakt zu diesem jeweiligen Volke verloren hatte.

„Wie unendlich viel können wir, gerade wir, doch von den Asiaten lernen!“ Das schrieb Helbig 1934 – zu einer Zeit, da in Deutschland der Rassenwahn und weiße Dünkel menschenverachtenden Auftrieb erhielten und viele Deutsche in mörderischer Verblendung meinten, der Rest der Welt habe gefälligst von ihnen zu lernen. Im Vorwort zu „Urwaldwildnis Borneo“ heißt es: „Dieser Bericht wurde geschrieben mit dem Wunsche, einen Begriff zu vermitteln sowohl von der Nutzung als vor allem auch von der Leere, der Weite und der Feindseligkeit des Urwaldraumes Borneo. Er möchte weiter ein wenig Liebe erwecken für die prächtigen, ursprünglichen Bewohner dieses Raumes: die ehrlichen, aufrechten und ritterlichen Dayak. Und er möchte, nicht zuletzt, auch erreichen, daß der Leser etwas von jenem Banne blutiger, leidenschaftlicher und doch auch so lähmender Kulturen auf sich lasten fühlt, wie nur der Urwald in seiner dämonischen Ungeheuerlichkeit sie gebiert. Dabei bin ich mir der Unzulänglichkeiten voll bewußt, besonders der Unmöglichkeit, von der Bevölkerung auch nur ein einigermaßen gerundetes Bild zu entwerfen.“

Von anderen lernen – der für Karl Helbig so bezeichnende Satz steht in seinem Buch „Tuan Gila – ein ‚verrückter Herr‘ wandert am Äquator“. Als er dafür seine Feldforschung im Norden Sumatras betrieb und 2000 Kilometer zu Fuß übers Hochland streifte, ganz allein als Europäer und nur von einem einheimischen Jungen bei Traglasten unterstützt, da konnten sich die Bataker, die Menschen der Region, keinen Reim auf diesen seltsamen Europäer machen. Ein Mann, der nur ihre Lebensweise erkunden wollte, der in ihren Häusern zu schlafen und essen bat, der sie nach ihren Geistern befragte und sich bemühte, ihre eigene Sprache zu sprechen – das war ein eigenartiger Gast, ein „Tuan Gila“, ein verrückter Herr eben. „Sie waren gewohnt, wenn Weiße kamen, dann wollten sie etwas von ihnen“, erzählte er mir mit leisem Lächeln, „entweder wollten sie sie ausbeuten oder wollten sie zur Polizei werben oder zum Militär pressen – oder wollten sie zu Herrendiensten, zum Straßen- oder Brückenbau und dergleichen. Und ich wollte das alles nicht. Stattdessen kroch ich in den Bergen herum und beklopfte die Steine mit Hämmern und lebte mit den Eingeborenen zusammen. Da konnte ja irgendwas nicht richtig sein. Ich war ein Tuan Gila. Den Titel habe ich ganz gerne übernommen.“ Und bei dieser Erinnerung nach Jahrzehnten lachte er herzlich, als sei er gerade erst vom Schiff gekommen und habe wieder am Schreibtisch in der Bleickenallee seinen Platz auf der anderen Seite des Globus eingenommen. Im Vorwort des „Tuan Gila“ schrieb er: „…ich fragte mich selber, ob ich nun eigentlich als Wissenschaftler oder als Weltenbummler unterwegs gewesen sei. Vielleicht als beides…“

Noch eine Rückblende: Helbigs Borneo-Durchquerung ist bereits Legende. Im November 1936 trat er seine abenteuerlichste und beschwerlichste Reise an. Der Mangel an finanzieller Unterstützung zwang ihn erneut, als Heizer nach Indonesien zu fahren. Im Januar des darauffolgenden Jahres traf er in Batavia ein. Das Ziel der Unternehmung war eine Erkundung von Kalimantan, wie heute der zu Indonesien gehörende Teil Borneos heißt. Nach anfänglichen Feldstudien in Westjava sowie auf den Inseln Bangka und Belitung traf er im April 1937 in Pontianak an der Westküste Borneos ein. Er startete zu einer der mutigsten Expeditionen der Vorkriegszeit. Es war damals ein aufsehenerregender Fußmarsch, der in dieser Weise noch nie zuvor von Europäern unternommen worden war. Erst 46 Jahre danach war es ihm möglich, die vollständige Auswertung der damaligen Reiseeindrücke und wissenschaftlichen Daten zu veröffentlichen: „Eine Durchquerung der Insel Borneo/Kalimantan“.

Kennern Südostasiens ist der Name Kalimantan geläufig; in Europa aber hat sich dieser einheimische Name für die drittgrößte Insel der Welt noch nicht durchgesetzt. Da heißt sie weiterhin Borneo, genauso wie die Europäer vor Jahrhunderten sagten. Der Name weckt Gedanken an Kopfjäger, Orang Utans und Urwald. Von den tatsächlichen Verhältnissen, von der Größe, von den Menschen Kalimantans ist bei den Europäern ziemlich wenig bekannt. Für Forscher aus den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen ist die Region stets eine Herausforderung gewesen. Die unermeßlich große Insel mit den endlosen Weiten ihres Waldes und rätselhaften Volksgruppen hat schon viele Ethnologen, Geographen, Forstfachleute und andere von Berufs wegen neugierige Leute zu Reisen gereizt. Ebenso war die Insel mit ihren natürlichen Reichtümern wie Holz, Erdöl und Kohle das Ziel europäischer Glücksritter und gewiefter Geschäftsleute. Seit 200 Jahren ist die Geschichte Borneos/Kalimantans auch die Geschichte europäisch-asiatischer Interventionen. Die heutige Grenzziehung geht auf eben dieses europäische Erbe zurück. Sarawak und Sabah, nun zu Malaysia gehörend, und Brunei, das selbständige Sultanat, waren ehedem britisch kontrolliertes Gebiet gewesen. Die heutigen indonesischen Provinzen waren einst Teil Niederländisch-Ostindiens. Der Zweite Weltkrieg und die Unabhängigkeitskämpfe haben die europäische Bevormundung beendet, aber die Grenzen von gestern blieben erhalten.

Für Karl Helbig sollte Borneo die härteste Prüfung seines Lebens werden. Mit der Durchquerung gelang ihm, was er fast ein halbes Jahrhundert später in den beiden Bänden über das Kalimantan-Projekt so bezeichnete: „Das größte und inhaltsreichste berufliche Unternehmen, das bunteste, schwerste und schönste Abenteuer meines Lebens.“ Er sah sich dabei ausdrücklich in der Nachfolge des deutschen Arztes und Naturforschers Franz Wilhelm Junghuhn (1809 – 1864), der unter erheblichen körperlichen Anstrengungen auf Java und Sumatra erstmals wissenschaftliches Grundlagenmaterial zu Fauna, Flora, Geologie zusammengetragen hatte und ehrenvoll der „Humboldt von Java“ genannt wurde. Dessen umfangreiches Werk kannte Helbig und schätzte er sehr. Was Strapazen betrifft, standen Helbigs Mühen denen Junghuhns keineswegs nach. Zusammen mit dem Seefahrtskameraden Erich Schreiter und mit zwei oder drei von Etappe zu Etappe wechselnden einheimischen Trägern marschierte er von Pontianak nach Samarinda und von dort nach Banjarmasin. 3000 Kilometer zu Fuß. Acht Monate hat das Unternehmen gedauert. So gründlich und konsequent und so peinlich genau in den Aufzeichnungen hatte das dort noch kein Mensch durchgehalten.

Karl Helbig und sein kleiner Trupp folgten nicht den üblichen Wegen, nämlich den Flüssen entlang wie es die Einheimischen tun, sondern im wahrsten Sinne des Worte: quer durch unbewohnte Urwaldgebiete. Über Gebirgszüge und über die große Wasserscheide zwischen West- und Ostkalimantan. Zwischendurch mußten die Boote über die Berge getragen werden, um von einem Fluß zum anderen zu kommen. Immer wieder erinnerte sich Karl Helbig anerkennend der einheimischen Helfer. Ohne die Unterstützung der Männer und Frauen aus den verschiedenen Volksgruppen Kalimantans wäre die Expedition gar nicht zu schaffen gewesen.

Das Gepäck bestand zwar bloß aus wenigen Blechkisten, aber es war eben doch für nur vier Schultern zu viel. Lebensmittel nahmen darin keinen Platz ein. Gegessen wurde das, was es in den jeweiligen Dörfern zu essen gab. Wissenschaftliche Beobachtungsinstrumente, Medikamente, die fotografischen Apparate, Bekleidung und Geschenke, vornehmlich der so beliebte Preßtabak – all das hatte natürlich sein Gewicht. Einheimische Träger mußten immer wieder angeworben werden; und sie wurden nicht nur hilfreiche Beförderer des Gepäcks, sondern auch wichtige Auskunftspersonen.

Das zieht sich wie ein roter Faden durch die fast 800 eng bedruckten Buchseiten: Helbigs vielvariierter Versuch, europäischen Lesern vom Alltag der Menschen Kalimantans zu erzählen, von ihren Problemen, von ihren Nöten im Kampf ums Überleben, ihren Konflikten zwischen Traditionen und den zweifelhaften Segnungen des Fortschritts. Von den Anfängen der Luftfahrt berichtet Karl Helbig, von den industriellen Aufbauarbeiten in Balikpapan, vom Aufbruch ins 20. Jahrhundert, das mit all seinen Maschinen und technischen Krachmachern längst auch Kalimantan erreicht hat. Vor nahezu einem Jahrhundert hat das alles begonnen. Im Vergleich zu den 1930er Jahren hat sich eine Menge verändert. Die Verkehrsverhältnisse sind bedeutend verbessert worden. Es ist heute einfacher, nach und durch Kalimantan zu reisen. So kann es denn mit Fug und Recht auf den Umschlägen der Borneo-Bücher heißen: „Eine Dokumentation in Wort und Bild für vieles, was nie wiederkehren wird.“

Ein bißchen Nostalgie klingt da immer wieder an, gerade an den Stellen, da Helbig das dörfliche und religiöse und kulturelle Leben jener damals noch ziemlich unberührt von modernen Einflüssen existierenden Menschen beschreibt. Vom „sterbenden Dayakland“ berichtet Karl Helbig: „Auf zehn, auf zwanzig, vielleicht dreißig Kilometer hin trifft man auf ein Dorf, oft nur ein Dörfchen, auf ein paar armselige Ladanghütten; und nicht einmal nach jeder Richtung hin gemessen, sondern nur längs des Netzwerkes der Flüsse, mit vollkommen unbewohnten Maschen weit größerer Ausdehnung dazwischen. Ein Häuflein kulturarmer Menschen haust darin. Mit Mühe ringen sie dem ausgeraubten Boden noch ihren kümmerlichen Lebensbedarf ab. Der oberflächliche Beurteiler mißt ihre Arbeit an ihren Erträgen und nennt sie ‚faul‘. Aber was können sie dazu, daß die Verhältnisse so ungünstig, ihre Kräfte so gering sind. Jahraus, jahrein wandern sie mit ihren Feldern weiter in weitem Umkreis, bis die Entfernung zu Siedlung und die Anreicherung von Krankheitskeimen in dieser selbst so groß werden, daß man sie besser verläßt und anderswo eine neue Behausung aufschlägt, vielleicht für zwölf oder fünfzehn Jahre oder, wenn es ganz hoch kommt, auch für deren zwanzig. Man braucht sich wirklich nicht zu wundern, wenn in manchen abseits gelegenen Kampongs die Menschen noch fast tierhaft sind. Wie eng ist doch ihr Lebens- und Erlebniskreis!“

Das macht die Bedeutung der Borneo-Bücher Karl Helbigs aus: Sie spiegeln mit vielen Schattierungen das Kalimantan der 1930er Jahre wider, da sich der Zweite Weltkrieg auch in Südostasien bereits ankündigte und Hollands Kolonialherrschaft längst brüchig geworden war. So gesehen ist das, was Karl Helbig nach Jahrzehnten vorlegte, ein Geschichtswerk, in dem manches ein tatsächlich und endgültig abgeschlossenes Kapitel ist. Aber erst diese historische Quelle erlaubt das Verstehen der Gegenwart. Da ist kein geschichtliches Rad, das es zurückzudrehen gilt. Vieles, was das harte Leben der Menschen in den inneren Bereichen Kalimantans früher belastet hat, ist überwunden. Denken wir an die medizinischen Möglichkeiten oder an die heutigen Chancen der Bildung. Aber die Frage, die Helbig immer wieder stellt, ist die nach dem Preis des Fortschritts. Man kann sich heute streiten darüber, was von der vielfältigen Kultur der Volksgruppen im Innern Kalimantans fortbesteht und was nicht, was an Identität verloren ging, was die Menschen an Eigenheiten aufgeben mußten. Eines aber steht fest: Die Entwicklungskonzepte von den ausländischen Missionaren über die Kolonialverwaltung bis zu den aus Jakarta ferngesteuerten Behördenvertretern gingen und gehen stets davon aus, daß die Lebensweise der alteingesessenen Dayaks unzeitgemäß und rückständig sei. 1937 genauso wie heute. Dieser mit unterschiedlichen Mitteln durchgesetzte Anspruch der anderen hat vielfältige Folgen.

Fremdeinflüsse und skrupellos durchgesetzte Interessen von außen werden bei einem Mißstand besonders deutlich, auf den Karl Helbig schon in den 1930er Jahren warnend hinwies: die katastrophalen Auswirkungen der rücksichtslosen kommerziellen Abholzung in den Wäldern Kalimantans. Das Thema ist nicht nur aktuell geblieben, es hat sich dramatisch zugespitzt. Die Gefährdung der tropischen Regenwälder und die Schäden für Klima und Wasservorräte für die Lebensräume von Millionen von Menschen ist längst zum Weltproblem geworden. Die Ursachen der Naturzerstörung sind nicht isoliert zu sehen. Auch die Brandrodung in immer kürzeren Abständen, die den Wäldern keine Zeit mehr zur Regenerierung läßt, gehört dazu – aber auch und vor allem die kommerzielle Profitgier bei der Plünderung der Wälder. Da nahm Helbig in seiner empörten Kritik kein Blatt vor den Mund und setzte seinen Marsch ideell in die Gegenwart fort..

1940 erschien über Helbigs Expedition sein volkstümliches Reisebuch mit dem Titel „Urwaldwildnis Borneo. 3000 Kilometer Zick-Zack-Marsch durch Asiens größte Insel“. Das wissenschaftliche Werk erschien fast ein halbes Jahrhundert danach. Helbig beließ es bei der Rückschau. Bei einem Skandal jedoch, der gefährdeten und bereits ruinierten Natur durch den Raubbau der Wälder Kalimantans, fügte der Autor einen Kommentar aus der Sicht der 1980er Jahre ein und bemerkte leidenschaftlich: „Intime Berichte, gerade aus Indonesien (und den Philippinen), lassen jeden verantwortlich denkenden Unbeteiligten eher vor Scham erröten als jene Aasgeier in der soliden Aufmachung von Generälen und Gouverneuren, Koordinatoren, Managern und Bossen selbst, denn deren Ideologie und Philosophie besteht einzig und allein darin, sich auf jede auch die gesetzlich fragwürdigste und moralisch gemeinste Weise die Taschen zu füllen – zu Lasten des guten Rufes ganzer Nationen.“

Heute gebrauchen die Wissenschaftler gern Begriffe wie Research oder Studienreise. Es gibt eine Reihe von Institutionen und Entwicklungshilfe-Organisationen, die so etwas finanzieren. Gerade Ost-Kalimantan ist dafür ein Beispiel. Dort wurde vom Zentrum Samarinda aus mit deutscher Unterstützung in großzügiger Weise geforscht und ermittelt. Die Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GZT, Eschborn bei Frankfurt am Main) baute dort in den 1970er und 80er Jahren ein umfangreiches Regionalentwicklungsprojekt auf. Zu Dutzenden waren deutsche Experten damit beschäftigt, Daten für die Entwicklungspläne der indonesischen Regierung zusammenzutragen. Kaum ein Lebens- und Naturbereich, der da nicht gründlich untersucht wurde. Die wissenschaftlichen Arbeiten jener Jahre füllen Regale. Finanzielle Mittel standen in Millionenhöhe zur Verfügung. In den Tiefen der Flüsse wurde das Wasser analysiert; mit Satellitenhilfe wurden Landkarten erarbeitet.

Wie anders war das zu Helbigs Zeiten! Forschungsreisender – das ist sogar als Begriff aus der Mode gekommen in einer Gegenwart, da die Begründung eines öffentlich zu fördernden Projektes und das Ausfüllen des Antragsformulars mindestens so ernst genommen werden, wie die Realisierung der Feldarbeit. Für Helbig gab es keine solchen Formulare. Er war einer der letzten Vertreter einer ausgestorbenen Wissenschaftlergattung. Keine offizielle Institution war 1937 an der Finanzierung der Borneo-Durchquerung beteiligt. Keine Universität stand hinter dem strapaziösen Unternehmen. Selten wurde eine Forschungsreise dieser Dimension mit so geringem materiellen Aufwand durchgeführt. Auch dies gehört zu den Besonderheiten der Reise von damals. Niemals hat Helbig seine Forschung als bloße Faktensammlung verstanden. Stets bezog er die Menschen mit ein und vermittelte in seinen Büchern, Artikeln und Vorträgen etwas von deren Leben, deren Wünschen und Träumen; und immer tat er dies mit größter Hochachtung vor deren Kultur und ihren Besonderheiten. In der Wissenschaft seiner Zeit war das ganz und gar nicht selbstverständlich.

Helbigs eiserner Wille war zugleich der Weg seiner Unternehmungen. Einfache Lebensweise, Sparsamkeit – Maximen, die mir noch der Greis so anschaulich vermittelte – prägten sein Werk. „Meine Einnahmen sind meine geringen Ausgaben“, pflegte er zu sagen; dies gepaart mit Ausdauer und unerschütterlicher Zähigkeit. Welche Geduld hatte es erfordert, den wissenschatlichen Ertrag der Borneo-Durchquerung fast ein halbes Jahrhundert später in die endgültige Form der Druckvorlagen zu bringen. Ich erfuhr bei meinen Besuchen in Hamburg, welche Anstrengungen und eiserne Disziplin der bereits Mittsiebzigjährige auf sich nahm, um die Arbeit abzuschließen. Mit Gertrud Tischner, der Mitarbeiterin mehrerer Veröffentlichungen, galt es, die Illustrationen und Landkarten zu gestalten. Die Tagebücher von 1937, zum größten Teil in einer nur noch Helbig selbst entzifferbaren Stenographie verfaßt, wurden zu nachlesbarem neuen Leben erweckt. „Wenn ich das Material nicht mehr aufarbeite und veröffentlichen kann, wird es unwiederbringlich verloren sein“, hatte er mir in rastloser Ungeduld gesagt und bei all unseren Gesprächen deutlich gemacht, dass seine Zeit bemessen, kostbar und mit Arbeit zu füllen sei. Ein Leben lang.

Auf den letzten Seiten der Borneo-Bücher steht: „Bye-Bye Borneo!“ Karl Helbig ist danach nie mehr nach Südostasien gekommen. Der Zweite Weltkrieg machte alle weiteren Pläne zunichte. Doch Helbig war zum Wegbereiter der Indonesien-Forschung geworden. Auf seine Arbeiten konnten und können Generationen nachfolgender Wissenschaftler bauen.

Für einen solchen Mann des aufrechten Ganges blieben die Universitäten des Dritten Reiches als Hochschullehrer verschlossen. Er trat keiner der erforderlichen Gesinnungsorganisationen oder der Partei bei. Erst nach dem endgültigen Zusammenbruch des Nazi-Reiches wurde ihm eine Dozentur am Geographischen Institut der Universität Hamburg angeboten. Hinzu kamen entsprechende Offerten der Universitäten Leipzig, Jena, Rostock und Greifswald in der damaligen DDR. Doch Helbig blieb Zeit seines langen Lebens freischaffend tätig. Er hatte die Luft der Unabhängigkeit gerochen. Seiner Forschungen wegen und seiner Veranlagung gemäß, sich niemanden verpflichten zu müssen, stieg er dann immer wieder in die Höllenhitze der Dampfschiffe mit Kurs Südostasien – und nach dem Zweiten Weltkrieg mit Kurs Lateinamerika. Karl Helbig, der promovierte Heizer.

In fortgeschrittenem Alter, in dem Generationsgenossen bereits Ausschau nach einer bequemen Rentnerbank halten, ortete Helbig seinen Kompas noch einmal völlig neu. In den 1950er Jahren begann er mit geographischen Untersuchungen in Mittelamerika und der Karibik. Wiederum erarbeitete er sich die Überfahrt als Heizer auf Handelsschiffen. Mit großem Erfolg wandte er sich 1953 wissenschaftlichen Arbeiten in Mexiko, Guatemala und El Slavador zu; er erforschte die Misquito-Region im Grenzgebiet von Honduras und Nicaragua. Dazu vertiefte er seine Sprachkenntnisse des Spanischen. 1971/72 bereiste er die Provinz Chiapas in Südmexiko. 1977 überwachte er persönlich in Mexiko-City den Druck und die Herausgabe seiner großen zweibändigen regionalen Monographie, die in spanischer Sprache erschien: „Chiapas. Geografia de un Estado Mexicano“. Wieder war er zu Fuß losgezogen, um dafür die erforderlichen Daten zu sammeln. Wieder unter enormen körperlichen Strapazen. Wieder mit geringen Mitteln.

Abermals war sowohl der wissenschaftliche als auch der erzählerische Ertrag gewaltig. Das Folio-Werk umfaßt nahezu 800 Seiten und bietet einen gesonderten Kartenband. Mexiko dankte offiziell. Für die Arbeit in Chiapas erhielt Helbig 1979 den „Staatspreis Chiapas, Abteilung Wissenschaft“. Erstaunlich, wie sich der Mann in hohem Alter noch einmal auf eine für ihn neue Weltregion einließ und in bewährter Gründlichkeit das unbekannte Land beackerte, sich dessen Menschen näherte und in der bei all seinen Aufzeichnungen unbestreitbaren Genauigkeit in Wort und Bild festhielt. Es sollte seine letzte eigenständig recherchierte Arbeit in diesem Bereich seines umfangreichen Lebenswerkes sein.

Einige seiner Bücher, vor allem die für ein breiteres Publikum geschriebenen Reisebücher, sind ins Russische, Tschechische, Slowakische, Spanische und in andere Sprachen übersetzt worden. Viele der von ihm gesammelten ethnographischen Objekte sind im Besitz der Völkerkundemuseen Hamburg und Stuttgart und in der völkerkundlichen Sammlung des Roemer- und Pelizeus-Museums seiner Heimatstadt Hildesheim; dort ist der größte Teil seines publizistischen Nachlasses für Studienzwecke weiterhin verfügbar geblieben. Sein literarisches Gesamtwerk umfaßt etwa 700 Titel. Diese Vielfalt macht Helbigs Lebenswerk aus.

Seine Forschungsergebnisse bereicherten vor allem die Wissenschaften, die sich mit Indonesien beschäftigen. Seine volkstümlichen Bücher haben besonders in Deutschland beigetragen, ein menschliches Bild des indonesischen Archipels und seiner Bewohner zu vermitteln. Anläßlich seines 85. Geburtstages schrieb Professor Werner Röll, Geograph an der Universität Kassel: „Aus diesem Anlaß erscheint es angebracht, das bisherige Leben und Werk eines Mannes zu würdigen, dem die deutsche Südasien- und Lateinamerikaforschung wertvolle Beiträge verdankt. Dies gilt um so mehr bei einem Menschen, dem große persönliche Bescheidenheit eigen ist.“

Karl Helbig war ein Asket. Der Mangel der 1920er Jahre, Inflation und die Flüchtigkeit materieller Güter steckten ihm ein Leben lang in den Knochen. Gebrauchte Briefumschläge gewendet neu zu verschicken, war ihm mehr als eine Marotte vermeintlichen Geizes; das war einer seiner Beiträge gegen jegliche Art der Verschwendung. Mit der Überfluß- und Wegwerfgesellschaft hat er sich nicht anfreunden können. Speisereste vom Essen im Restaurant nahm er mit nach Hause: „Aufgewärmt ergibt das noch einige Mahlzeiten.“ Er sagte es mit unumstößlicher Selbstverständlichkeit und mit dem praktischen Verstand des Mannes, der allein lebte und seine Lebensumstände stets allein zu organisieren wußte.

Ich sah solcher bescheidenen Vorratswirtschaft einige Male zu. Meine Besuche in der Bleickenallee endeten zumeist „beim Chinesen“, in einem chinesischen Lokal ein paar Ecken weiter. Karl Helbig gab die Bestellung in indonesischer Sprache auf und tat dies so eigentümlich, als säßen wir irgendwo in einem „Warung“, einem Essenladen, auf Java oder Sumatra. Die chinesischen Kellner lächelten amüsiert. „Tuan Gila“ war wieder in seiner Welt: der unangepaßte Mann, der seinen Weg gegangen war.

Den „verrückten Herrn“ hat er in der deutschen Übersetzung etwas relativiert als er mir sagte: „Na, ein verrückter Herr wollte ich ja gerade nicht sein, aber einer, der gerne wandert und erkundet, ein ausgefallener, aber doch inhaltsreicher, bereichernder Beruf mit einer gewissen Eigenständigkeit, Selbständigkeit. Die habe ich glücklicherweise bis ins hohe Alter hineingerettet. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Leben. Es war bestimmt nicht immer leicht, aber es war schön.“

Stundenlang konnte er erzählen. Zeiten und Räume lösten sich auf. Ich war immer wieder aufs Neue verblüfft über die Exaktheit der Erinnerungen. Die präzise Beobachtung seiner Bücher lebte in den Gesprächen weiter. Helbig hatte immer genau hingeschaut, hatte nachgefragt, hatte sich Namen und Begriffe eingeprägt. Er erzählte von Begegnungen, die mehr als ein halbes Jahrhundert zurücklagen; und er erzählte so, als sei es gestern gewesen. Wenn er von seiner Heizererfahrung berichtete, verfiel er ins Präsenz, sprach vom „Wir – wir, die Seeleute“ und verschaffte dem Zuhörer die Illusion, als sei der Heizer gerade erst von Bord gegangen.

In dieser tiefen Vertrautheit mit dem Geschehen unter Deck lag zugleich der Verdruß seiner hochbetagten Jahre. „Alle, die von der Seefahrt schreiben wollten, haben einen Verleger gefunden, alle, die über Deck arbeiteten“, so machte er seinem wachsenden Ärger Luft, „die Kapitäne, die Ersten Offiziere, die Stewards, die Einhandsegler und wer sonst noch. Aber einer wie ich, der das harte Leben der Heizer kennengelernt hat und darüber schreiben kann, der wird nicht mehr beachtet.“ In diesem Zusammenhang war dann von B. Traven die Rede. Ja, der habe etwas von Literatur verstanden; mit dem wolle er sich gar nicht messen, so Karl Helbig, und die Beschreibung Travens über das Heizerdasein sei durchaus lesenswert. Aber wer könne so wie er auf zwei Dutzend Fahrten vor den Feuern zurückblicken und dies zu Papier bringen? Er ließ nicht locker, schrieb sein Heizerepos und kontaktierte Verlage. Und er schaffte es. 84 Jahre war Karl Helbig, als 1987 dieses einzigartige Buch erscheinen konnte: „Seefahrt vor den Feuern. Erinnerungen eines Schiffsheizers.“

Es war „der letzte Helbig“, so schrieb er mir als Widmung. Die Geschichte von eineinhalb Jahrhunderten mit Dampf betriebener Seefahrt, deren Ende er in den Heizräumen miterlebt, miterlitten hat. Auf jeder Seite der alte Helbig: pingelig exakt und menschlich vermittelnd, mit sicherem Gespür für zeitgeschichtliche Zusammenhänge und kommentierend aus der Sicht dessen, der die Lebensbedingungen ganz da unten kannte: „Dieses Buch schrieb ich als Gruß und Dank für alle, die auf Schiffen ‚vor den Feuern‘ Schwerstarbeit geleistet haben“, so die allgemeine Widmung.

Im Juli 1988 wurde Karl Helbig das Bundesverdienstkreuz verliehen. Festakt im Rathaus der Geburtsstadt Hildesheim. Routineveranstaltung. Pflichtübung für einen Oberstadtdirektor. Doch vermutlich hatte noch kein Sohn der Stadt eine solche Ehrung erhalten, der so weit gereist war wie Karl Helbig und auf eine solch unkonventionelle Biographie zurückblicken konnte wie er. So blieb denn die übliche vorfabrizierte Referenten-Rede papiern und Verwaltungspalaver. Interessant wurde es erst, als Karl Helbig selbst zu Wort kam. Unspektakulär, plaudernd, kompetent, engagiert. Freunde, Kollegen, Bürger der Vaterstadt hörten gespannt zu. Dies unterschied die Verleihung erfrischend von dem blutleeren Protokoll sonstiger Veranstaltungen dieser Art. Da lief kein oberflächliches Ritual ab. Da erzählte ein welterfahrener Mann von den Menschen Indonesiens und von seiner Absicht, die er auf all seinen verschlungenen Lebenswegen verfolgt hatte: Zwischen den Menschen zum Brückenschlag zu verhelfen und zum gegenseitigen Verständnis beitragen zu wollen. Ein wunderbarer Auftritt. Während der Oberstadtdirektor ungeduldig zum nächsten Termin eilen wollte, aber den geehrten Gast ja nicht gut vor die Tür weisen konnte, hatte Helbig wieder einmal ein begeistertes Publikum, das herzlich über Episoden aus den frühen Wanderjahren lachte – als ein gewisser „Tuan Gila“ durch Sumatra lief. Der unangepaßte Helbig, der sogar bei diesem hochoffiziellen Anlaß den üblichen Rahmen sprengte. Am nächsten Tag waren der Lokalzeitung Helbigs Erzählungen fast eine ganze Seite wert.

Seine Begabung, packend doch gänzlich unprätentiös, glaubwürdig, überzeugend ohne effektheischende Selbstdarstellung erzählen zu können, hat noch dem 86jährigen zu Fernsehpopularität verholfen. In Eberhard Fechners Film „La Paloma“, der am 1. Februar 1989 in Deutschland ausgestrahlt wurde und in eindrucksvoller Schnittechnik elf hochbejahrte Seeleute über ihr Leben reden läßt, machte Karl Helbig als gelebte Erfahrung deutlich: „Seefahrt und Romantik sind zwei grundverschiedene Begriffe.“ Im Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL stand damals: „Der streng dreinblickende Mann mit den kantigen Zügen ist Fechners heimlicher Held.“ Mit derselben Verschmitztheit, mit der er mich auf seinen Dachboden geführt hatte, bekannte Helbig: „Ich bin der reichste Mann der Welt!“ Wer so viel erlebt habe wie er, wer all seine Pläne gegen jegliche Widrigkeiten so zu verwirklichen in der Lage gewesen war wie er und nun auf die Ernte seines Lebens zurückblicke, der könne sich eben allen materiellen Mangels zum Trotz als reichster Mann der Welt bezeichnen.

Die Wohnung in der Bleickenallee hatte er nach dem Tode seiner langjährigen Betreuerin und Lebensgefährtin unverändert übernommen und weitergeführt. Da blieb die Zeit ein wenig stehen. Der Blick aus dem Fenster reichte hinüber zur Elbe. Das Tuten der Schiffe war gleichbleibender Klang einer sich rasant wandelnden Seefahrt, der die Feuer längst verlöscht sind. Bei der Zimmereinrichtung entstand kein Bedarf mehr nach Erneuerung. Das kleine Radiogerät aus den 1940er Jahren erfüllte seinen Zweck. Ein Fernsehapparat? Wozu? Die Regale quollen über mit seinen Büchern. Nächtelang arbeitete Karl Helbig das unerschöpfliche Material seiner Reisen auf. Ein Telefon? Auch auf diese Quelle unerwünschter Störung verzichtete er souverän. Wer ihn besuchte, musste im Vorgarten klingeln und wurde aus dem Fenster oben von Karl Helbig kritisch gemustert, ehe er den Hausschlüssel nach unten warf.

Das elektrische Heizöfchen stammte ebenfalls aus frühen Jahren. Ausgerechnet dieser harmlose Gegenstand wurde zum Auslöser dramatischer Ereignisse. Im März 1991 – der Raum sollte ein wenig aufgewärmt werden, den Kachelofen mit den üblichen Holzspänen und Briketts anzuzünden lohnte nicht – geschah das Unglück. Auf einer Postkarte schrieb mir Karl Helbig in seiner klitzekleinen, nun schon zittrig gewordenen Schrift: „Durch blitzschnellen Zimmerbrand infolge Kurzschluß (ein einziger Funke!) in einem elektrischen Heizgerät, mit sofortigem Übergreifen (im Stockdunklen) auf ausgebreitetes langjähriges Arbeitsmaterial usw. habe ich nahezu alle unersetzlichen…Schriftstücke verloren. Gleichzeitig wurden schwere Schäden an der Wohnungseinrichtung verursacht… Eine traurige Endperiode (in der 88sten ‚Geburtstagswoche‘). Doch ‚kapitulieren‘ möchte ich dennoch vorläufig nicht – halten Sie mir, bitte, den Daumen! Aber bitte keine ‚Beileidsbezeugung‘, so gut sie auch gemeint sein mag!“ Letzteres dick unterstrichen. Und als Postskriptum: „Der ‚Abschied‘ kann nicht mehr sehr weit entfernt sein.“ – Den alten Schiffsheizer hatte das Feuer eingeholt.

Ein Bild hat sich mir eingeprägt, einigemale geschaut und von Jahr zu Jahr mit dem drängender werdenden Gedanken begleitet, es werde das Schlußbild einer Freundschaft sein: Nach dem gemeinsamen Essen „beim Chinesen“ trennten sich unsere Wege. Karl Helbig ging zurück zur Bleickenallee; ich strebte dem Bahnhof Altona zu. Ein letzter Händedruck. Ein Lächeln. Alles Gute und vielen Dank. „Selamat Jalan.“ Heil Ihrem Wege. Da stand er noch einige Sekunden vor dem Restaurant. Die Andeutung eines Winkens. Langsam, jeden Schritt sorgsam setzend, ging er heimwärts. In den letzten Jahren mißmutig darüber, daß ihm die Beine, auf die er sich so viele Jahrzehnte hatte verlassen können, im Stich ließen. Der Passantenstrom nahm den alten Herrn auf. „Tuan Gila“. Ich drehte mich noch einmal um. Ich sah ihn nicht mehr.

Am 9. Oktober 1991 ist Karl Helbig in Hamburg gestorben: „…mitten aus seiner Arbeit abberufen“, so heißt es in der Anzeige; sie wurde, seinem Wunsche entsprechend, erst drei Wochen nach seinem Tode veröffentlicht.

Zum Weiterlesen:
Werner Rutz/Achim Sibeth (Hg.): Karl Helbig – Wissenschaftler und Schiffsheizer. Sein Lebenwerk aus heutiger Sicht. Rückblick zum 100. Geburtstag, Georg Olms Verlag, Hildesheim, 2004