von Rüdiger Siebert

Da liegt es in geheimnisvollem Dunst, das Java der Bilderbücher mit Schluchten und steilen Hängen, das Java der uralten Reiskultur. Die Sonne blitzt in den Sawahs, den Naßreisfeldern, die terrassiert bis in die höchsten Hügel ansteigen. Jedes Stück Erde ist genutzt. Das Fenster der Eisenbahn wird zum Rahmen eines Filmes mit den langsam abrollenden Szenen dörflichen Alltags. Da werden Kleinkinder von ihren Müttern unter den Wasserstrahl eines Bambusrohres gehalten. Dort treibt ein Bauer seinen Büffel zum Feld. Eine unendliche Ruhe erfüllt das Geschehen da draußen. In Tausenden von Jahren sind die Abhänge gestaltet, ist die Natur von menschlichem Fleiß geprägt worden. Immer wieder schiebt sich die Schlange der weiß gestrichenen Waggons durch die kurze Nacht der Tunnel; und jedesmal ist es ein warmes Aufleuchten, wenn der Zug erneut ins pastellene Licht der gebirgigen Landschaft des westlichen Javas eintaucht. Während draußen ein Landmann zur Hacke greift, hält drinnen ein Fahrgast sein Handy ans Ohr.
„Kereta Api“ haben die Indonesier den einstmals von rauchender, dampfender Lokomotive gezogenen Eisenwurm genannt: Feuerwagen, wörtlich übersetzt. Längst sind die Eisenbahnen dieselbetrieben; doch der einprägsame Name ist geblieben und mit ihm zwischen Jakarta und Bandung eine der schönsten Strecken nicht nur Indonesiens, sondern der ganzen Bahn-Welt. Wer der Zehn-Millionen-Metropole und den feucht-schwülen Niederungen in Meeresnähe entfliehen will und in der gebirgigen Höhe von Bandung mal wieder frei durchatmen möchte, hat bei den Verkehrsmitteln die Wahl völlig unterschiedlicher Eindrücke. Schiene oder Strasse. Die Hoffnung, mit dem Auto oder Omnibus dem Verkehrsmoloch Jakarta zu entkommen, wird enttäuscht. Bis über 1200 Meter windet sich das Asphaltband hinauf zum Puncak-Paß an den steilen Hängen des Gunung Gede, dessen Gipfel 2.958 Meter aufragt. Es ist eine der befahrendsten Straßen Indonesiens. Die Autokarawane zieht eine schwarze Auspuffwolke hinter sich her. Ein düsteres, stinkendes Kapitel von Umweltzerstörung.

Ganz anders das Bahnerlebnis. In den Niederungen führen Straßen und Schienen noch nebeneinander. Je mehr aber die Strecke ansteigt, desto weiter entfernen sich die Reisewege voneinander. Die Eisenbahn kommt über Bekasi, Karawang und Purwakarta nach Bandung, macht also um den Puncak-Paß einen weiten nordöstlichen Bogen. Über silbern-rostige Stahlkonstruktionen großzügig geschwungener Brücken windet sich die eiserne Schlange im Anstieg weiter Kurven an Abgründen entlang. Die Strecke war als Teil der Java-Durchquerung von Batavia, dem heutigen Jakarta, bis Surabaya zum Ende des 19. Jahrhunderts eröffnet worden. Der Blick schweift über die von Vulkanen gesäumte Landschaft des Reises, der die Kultur geprägt hat. Der Kühnheit der stählernen Brücken entspricht die Kühnheit der frühen Bewohner dieser Region Javas, die ihre Reisfelder immer höher angelegt haben, immer erfindungsreicher in der Lenkung des Wassers wurden und über Jahrtausende mit der Natur in Harmonie lebten, die heute so gefährdet ist.
Umweltzerstörung und politische Turbulenzen allerorten. Wie sicher ist heutzutage Indonesien als Reiseland? Diese Frage stellt man sich natürlich überall in einer Zeit der politischen Umbrüche und des Neuanfangs mit demokratischen Vorzeichen. Ganz Indonesien ist in einem Übergangsstadium einer militärisch gestützten Diktatur in eine offenere Gesellschaft. Im Gewühl des Gambir-Bahnhofs, wo in Jakarta die Fahrt beginnt, blickt sich auch der Indonesienkenner mißtrauisch um und stellt schließlich fest: Jakarta ist für den Fremden so gefährlich oder ungefährlich wie jedes andere großstädtische Ballungszentrum auch. Das war in Indonesien schon so vor Jahren. Das ist so geblieben. Vorsicht ist angeraten, Zurückhaltung bei aufdringlichen Offerten und Anfragen von Unbekannten.
Wenn man schließlich die Menschenmassen hinter sich läßt und die klimatisierte Kühle des Zuges mit Namen Argogede genießt, steigt ein Gefühl der Geborgenheit auf. Platzkarten vermeiden Gedränge. Die Hostess nimmt lächelnd Bestellungen für Tee, Nasi Goreng, Lumpia entgegen. Man kann Zeitschriften ausleihen. Über die Videoschirme flimmern Werbespots einer globalisierten Konsumwelt. Rundumblick im Abteil. Beamte, die zu irgendeinem Meeting fahren, blitzblank geputzt die Schuhe. Studenten auf der Fahrt in heimatliche Kleinstädte. Chinesisch-stämmige Männer, Aktenköfferchen auf dem Schoß. Gegenüber eine junge Frau, die einen weißen Hosenanzug trägt, hochhackige Schuhe, den Kopf in ein malvenfarbenes Tuch gehüllt, das islamischer Sitte des westlichen Javas gemäß nur das Gesicht freiläßt.

Die ersten Eindrücke in Jakarta sind noch vom urbanen Moloch bestimmt. Hütten säumen dicht die Gleise. Es ist, als verlasse man durch die Hintertür der Ausgestoßenen die Hauptstadt. Nach einer flachen, ganz dem Meere zugewandten Landschaft weiter Felder ändert sich die Szenerie bald völlig. Steiler Anstieg. Die Brücken und Gleise sind über Felder, Hänge, Schluchten gespannt, wo keine Straße mehr hinführt. Das ermöglicht dem Reisenden geradezu intime Einblicke in dörfliches Hinterland und das Leben seiner Bewohner. Kein Autostau, keine Abgasschwaden. Die Eisenbahn führt durch das andere Indonesien, das ländliche, wo noch immer die übergroße Mehrheit lebt und Traditionen und Werte eine Bedeutung behalten haben, die in den Städten längst brüchig geworden sind. Der Fensterausschnitt zeigt paradiesische Bilder, die nichts von den Nöten verraten, dass der Zug durch eine der dichtest besiedelten Regionen der Erde rollt. Das Schienenband führt uns in die Bandunger Höhe von 700 Metern.
Des gesünderen Klimas wegen hatten sich die holländischen Kolonialherren zum Ende des 19. Jahrhunderts in dieser Bergwelt angesiedelt, um den feucht-schwülen Küstentemperaturen zu entfliehen. Hier bestand bereits eine kleine sundanesische Siedlung. Die Europäer gestalteten den Talkessel, der von Vulkanen umrahmt wird, nach ihren Vorstellungen. Als der niederländische Schriftsteller Louis Couperus zu Beginn der 1920er Jahre Bandung besuchte, schrieb er: „Eine Schöpfung europäischer Tatkraft, eine Stadt voll niederländisch-indischer Kultur und Interessen, eine Stadt, ganz erfüllt von niederländisch-indischer Kolonialtätigkeit, von niederländisch-indischem Leben und Streben. … Bandung ist eine aufblühende Stadt mit großer Zukunft.“ Das konnte damals nur heißen: Eine Zukunft unter holländischer Flagge. Dieses Tuch verstaubt längst in Museen, beispielsweise im Siliwangi-Museum an der Jalan (Straße) Lembong. Dort erinnert die sundanesische Eliteeinheit, Siliwangi, benannt nach dem letzten großen Hindu-Herrscher des westjavanischen Reiches Pajajaran, an die Kämpfe, die Ende der 1940er Jahre zur indonesischen Unabhängigkeit geführt haben. Ein populäres Lied jener Zeit war als Kampfaufruf in allen Gassen gesungen worden: Mit „Hallo, hallo Bandung…“ wurde das in Flammen stehende Bandung als Hochburg des Widerstandes gerühmt; ein wahrer Ohrwurm, den noch heute jedes Kind kennt; und wenn „Hallo, hallo Bandung“ von den Bambusinstrumenten eines Angklung-Orchesters intoniert wird – die musikalische Besonderheit der Region -, dann tönt’s besonders gefühlvoll und sentimental.
Längst ist Bandungs Bevölkerung auf nahezu drei Millionen angewachsen. Das Gemächliche, Gemütliche, das zur kolonialen Zeit gerühmt wurde, ging auch hier unter in der atemberaubenden Urbanisierung, von der alle Städte Javas erfaßt worden sind. Was da rund um Bandungs Innenstadt während der vergangenen Jahrzehnte an Verwaltungsneubauten, an Instituten und Kasernen, an Werkstätten und Fabriken aufs flache Reisland gestellt wurde, hat die Stadt und ihre unmittelbare Umgebung grundlegend verändert. Da ist es riesig aber gesichtslos geworden, ein Sammelplatz für Betonklästen, von einer supermodernen Umgehungs-Autobahn eingefaßt.
Veränderungen seit der Asienkrise und dem erzwungenen Rücktritt des Präsidenten Suharto? Die Luxushotels sind ausgebucht wie eh, doch die Zahl der bettelnden Kinder an den Straßenkreuzungen hat deutlich zugenommen. Zwei Seiten jener Entwicklung, die die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer werden läßt. Auch in Bandung nicht zu übersehen.
In seinem Kern ist Bandung noch heute eine zweigeteilte Stadt, ganz so, wie die Holländer einmal die Trennungslinie gezogen hatten: nördlich der die Stadt in Ost-West-Richtung wie einen Gürtel teilenden Eisenbahnlinie stehen die Villen der weißen Herren, Gartensiedlungen in bestens erhaltener Art-deco-Architektur, hohe breite Bäume hin zu den Hügeln und Vulkanen; südlich davon verläuft die Hauptstraße, die Jalan Asia-Afrika, an der der Alun-Alun, der Platz mit Moschee und Verwaltungszentrum liegt. Noch weiter südlich die schier unendliche Ausdehnung der Kampungs, wo die ärmsten Leute wohnen und das Land flach wird.
Die Jalan (Straße) Braga, auf der Scheitellinie zwischen den beiden Bandungs gelegen, strahlt für den, der ein wenig Phantasie aufzubringen bereit ist, noch einen Hauch jener Tage aus, da die hier lebenden Holländer stolz gewesen waren, wenn weitgereiste Gäste von Bandung schwärmten, es sei das Paris von Java. Hier hat sich der Baustil der zwanziger und dreißiger Jahre erhalten, eine rührende Mischung aus hausbacken und elegant. In einigen der Restaurants wird Nostalgie gepflegt. Historische Fotos an den Wänden künden in schwarz-weiß von einer untergegangenen Welt europäischer High Society. Heute kauft die einheimische Oberschicht in der French Bakery ein und geht ins holländisch eingerichtete Café und trinkt den in Bandung nach alter Tradition gebrannten „Koffie Aroma, Prima Kwaliteit“.
Drei Ecken weiter, an der Jalan Asia-Afria, repräsentiert das Gedung Merdeka, das weißgetünchte Haus der Freiheit, am eindrucksvollsten den Stil von vorgestern: „Societeit Concordia“ hatten die Holländer das Gebäude genannt. 1895 war es als Club der Weißen errichtet, später umgebaut und in den 1920er Jahren zu seiner bis heute erhalten Größe erweitert worden. Einst mit italienischem Marmor, Kristalleuchtern und edlen Hölzern ausgestattet, war es die lichte Arena der feinen weißen Gesellschaft. Mit der berühmten Konferenz von Bandung, die hier im April 1955 tagte, wurde den einstigen Herren weltweit die Führungsrolle im Weltgeschehen streitig gemacht. Die Asien-Afrika-Konferenz markierte den Aufbruch jener farbigen Völker, die in Bandung erstmals ihre Forderung nach Selbständigkeit gemeinsam erhoben und die Bewegung der Blockfreien begründeten.
Die Tagungsstätte ist Museum geworden und konserviert heute die hochgeschraubten Erwartungen von damals. Dokumente und historische Fotos halten die Aufbruchstimmung eines neuen Zeitalters fest, das längst auch über den Tagungsstil jener Bandunger Geburtsstunden hinweggegangen ist. Das deftige Gebäude mit den Rundungen eines holländischen Privinztheaters hat so gar nichts gemein mit den wolkenkratzenden Nachkommen, den heutigen Kongreßsilos. Bei der Bandunger Konferenz kamen die Größen der Zeit ohne Klimaanlage aus, ohne Simultandolmetscher, ohne die perfekte Konferenztechnik, die heutzutage die Kommunikation so einfach macht und der Verständigung so wenig nützt, wenn’s wirklich ernst wird. Im großen Saal sind einige Politiker von damals zu Schaufensterfiguren erstarrt. Am Mikrofon ein stummer Sukarno. Seinem Ruf waren Männer wie Nehru, Zhou Enlai, U Thant, Nasser, Prinz Sihanouk nach Bandung gefolgt.
Schräg gegenüber vom Gedung Merdeka hat die Prominenz genächtigt. Das Hotel Savoy-Homan hat nicht nur die Jahrzehnte schadlos überdauert; in jüngerer Zeit ist es fein herausgeputzt, renoviert und erweitert worden. Eine der besten Adressen Bandungs. Der für den holländischen Stil so typische gerundete Bau mit dem Schwung eines Ozeanriesen hat den Luxus von gestern bewahrt. Die Liste der illustren Gäste ist lang: das thailändische Königspaar, Charlie Chaplin, Max Schmeling, um nur einige Namen neben denen der Weltpolitik zu nennen. Heute kann sich der Gast mit einem nachgebauten Rolls-Royce der Goldenen 20er durch die Stadt und ins Umland chauffieren lassen.
Die Fahrt geht nordwärts bergan durch die Nobelviertel gepflegter Villen im Jugendstil. Nach acht Kilometern kurvenreicher Strecke steht linkerhand in leuchtendem Ocker eines der eigenwilligsten Gebäude Bandungs, das Gedung Bumi Siliwangi, in den dreißiger Jahren erbaut und damals Villa Isola genannt, deren italienischer Architekt offenbar für Rundungen schwärmte. Ein noch immer futuristisch anmutender Bau. Die Fenster wirken wie Schießscharten. Heute ist dort ein Teil der Pädagogischen Hochschule untergebracht.

Die Landschaft weitet sich an den Abhängen des Tangkubanprahus, des Hausvulkans. Der Name bedeutet umgestürztes Boot: Prahu. Die einprägsame Silhouette, 2.076 Meter hoch, erinnert an ein kieloben liegendes Schiff; in Bandungs Stadtwappen ist es stilisiert erhalten. An den Abhängen wird das fruchtbare Land für Obst- und Gemüseanbau genutzt, ein sanft abfallender Garten in sonnenbeschienener Freundlichkeit. In einigen der Dörfer werden an Sonntagvormittagen traditionellerweise Widderkämpfe ausgetragen. In der Region von Ciumbuluit beispielsweise; den einschlägigen Begriff für das Spektakel – „Adu domba“ – kennen alle Leute. Jeweils zwei Ziegenböcke, bunt geschmückt, rasen aufeinander los und krachen mit ihren Hörnern zusammen. Da tobt sich bäuerliche Spielart aus, die andernorts Hahnenkämpfe veranstaltet.

Es wird empfindlich kühl. Beim Ort Lembang sind wir bereits über tausend Meter hoch und passieren auf der rechten Straßenseite das renovierte Grand Hotel, das einmal Inbegriff kolonialen Luxus gewesen war, diesen Charme aber längst eingebüßt hat. Ein paar hundert Meter weiter erinnert zur Rechten ein ockerfarbener Obelisk an einen Forschungsreisenden aus Deutschland. Die Daten des Denkmals im Schatten von Chinarindenbäumen umreißen ein Leben, das eine Fülle an Stoff gleichermaßen für universitäre Bibliotheken wie für die Abenteuerliteratur erbrachte: „Dr. Franz Wilhelm Junghuhn, geboren te Mansfeld-Pruisen, 26. Oktober 1809, overleden te Lembang 24. April 1864.“ Als „Humboldt von Java“ ist Junghuhn schon zu seinen Lebzeiten bezeichnet worden. Generationen von Wissenschaftlern profitierten von seiner Grundlagenforschung. Er fertigte die erste topografische Karte Javas an. Junghuhn hat 45 Vulkane der indonesischen Hauptinsel bestiegen, vermessen und akribisch beschrieben. Auch den Tangkubanprahu.
Der prägnante Hausberg ist Bandungs populärstes Ausflugsziel geworden; und sicher ist er von allen indonesischen Vulkanen am leichtesten zu erklimmen. Das hat vor allem an den Wochenenden touristischen Rummel zur Folge. In zwei bis drei Stunden läßt sich der Gipfel ersteigen. Über die Hauptstraße in Richtung Subang kann man den Rand des Hauptkraters Ratu auch mit dem Auto erreichen, was dem Tangkubanprahu bereits den Ruf eines Drive-in-Vulkans eingebracht hat. Parkplätze für 200 Busse!

Unterhalb des Kraters haben die Nadelbäume mitteleuropäische Ausmaße. Riesenfarne sind zu bewundern. Schon von weitem schlägt einem Schwefelgeruch entgegen. Wir stolpern über scharfkantiges Lavageröll und überblicken die Weite des Sundalandes. Und dann stehen wir schließlich atemlos am Rande des Höllenschlundes, schauen in die Tiefe der grüngelb brodelnden Sohle und haben das ergreifende Gefühl, der Schöpfungsgeschichte nahegekommen zu sein.